Porträt eines Giganten
Jede Darstellung des Werks von Aristoteles (384-322 v. Chr.) droht sich in Superlativen zu erschöpfen. Wie konnte ein einzelner Mensch, ohne moderne Textverarbeitung und World Wide Web, nicht nur das gesamte Wissen seiner Zeitgenossen enzyklopädisch zusammenfassen, sondern obendrein so viele neue Denkrichtungen begründen? Wir sprechen noch heute von der "aristotelischen Logik", deren Grenzen erst im 20. Jahrhundert von der formalen Logik überschritten wurden. Das "aristotelische Drama" mit den drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung galt bis in die Moderne hinein als Paradigma. Erst das von Bertolt Brecht (1898-1956) propagierte "nichtaristotelische Theater" verabschiedete sich programmatisch von der Theorie, die Tragödie löse durch Hervorrufen von Furcht und Mitleid im Zuschauer die befreiende Affektreinigung oder Katharsis aus. Übrigens ist nur überliefert, was Aristoteles zur Tragödie lehrte; seine Schriften zur Komödie sind verschollen. Wenn wir Umberto Ecos Roman "Der Name der Rose" glauben wollen, hat sie ein mittelalterlicher Mönch vernichtet, weil er der Ansicht war, dem Menschen zieme das Lachen im Angesicht Gottes nicht.
Nicht alles, was Aristoteles später zugeschrieben wurde – zum Beispiel eine komplette Dramentheorie –, stammt tatsächlich von ihm. Das und noch viel mehr erfährt der Leser aus Flashars Buch. Der Autor ist als langjähriger Herausgeber der deutschsprachigen Aristoteles-Gesamtausgabe ein hervorragender Gewährsmann. Einleitend berichtet er, was wir über das Leben des antiken Philosophen wissen. Anders als sein aristokratischer Lehrer Platon (427-347 v. Chr.) war Aristoteles kein Bürger Athens, sondern Metöke, das heißt Ausländer ohne Bürgerrechte. Vielleicht erklärt das ein wenig den plebejischen Fleiß, mit dem er Fakten über Fakten zusammentrug und ordnete, statt sich wie Platon auf angeborene Ideen zu berufen.
Flashar schildert die abenteuerliche Überlieferung der aristotelischen Schriften. Die Hälfte ging verloren, erhalten sind nur Vorlesungsskripten aus der akademischen Lehrtätigkeit. Nachdem die Papyri fast in einem athenischen Keller vermodert waren, wurden sie gerade noch rechtzeitig entdeckt, von Eroberern nach Rom geschafft, immer wieder abgeschrieben und von byzantinischen Gelehrten sowie syrischen und arabisch-spanischen Übersetzern weitergereicht. Dem christlichen Mittelalter galt Aristoteles einfach als der Philosoph schlechthin.
Ausführlich stellt Flashar die Forschungsdisziplinen dar, die der antike Meisterdenker erstmals als Lehrstoff strukturierte, und skizziert kurz und souverän deren Nachwirkungen. Dabei entpuppt sich Aristoteles immer wieder als Gegenspieler seines Lehrers. Während Platon alles aus reinem Denken heraus entwickelt, kritisiert der Schüler dessen Ideenlehre als unnötige Verdoppelung der Welt und macht sich auf, den unermesslichen Reichtum der materiellen Natur zu erfassen – von den unbelebten Körpern bis hin zur Vielfalt der Lebewesen.
"Ich hatte bereits eine hohe Meinung von Aristoteles’ Verdiensten", schrieb der große Charles Darwin kurz vor seinem Tod an einen Freund, "aber nicht die geringste Ahnung, was für ein wundervoller Mensch er war. Linné und Cuvier waren – auf sehr unterschiedliche Weise – meine beiden Götter, aber im Vergleich zum alten Aristoteles waren sie doch bloß Schuljungen."
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