Ein streitbarer Psychiater
Der Motor läuft nicht richtig? Dann fehlt ihm Schmieröl. Gib es ihm, es wird sich von selbst an die richtigen Stellen verteilen, und das Problem ist gelöst. Der Mensch ist zuckerkrank? Dann fehlt ihm Insulin. Gib es ihm, es wird sich von selbst an die richtigen Stellen verteilen, und das Problem ist – zumindest für den Moment – gelöst. Der Mensch ist depressiv? Dann fehlt ihm Serotonin – aber es ihm zu geben nützt nichts, denn es verteilt sich nicht von selbst an die richtigen Stellen, und selbst das würde das Problem nicht lösen. Das menschliche Gehirn ist eben deutlich komplizierter als der Verbrennungsmotor oder der Glukosestoffwechsel.
Der neuronale Botenstoff Serotonin wird aus einer Nervenzelle freigesetzt, wandert durch den nur 15 Nanometer breiten synaptischen Spalt zwischen ihr und der benachbarten Nervenzelle, lagert sich dort an einen Rezeptor an und vollendet damit die Informationsübertragung von der einen Zelle zur anderen – wenn es nicht von seiner Absenderzelle vorzeitig wieder eingesammelt wird. Allem Anschein nach dient dieser Hemmungsmechanismus (reuptake) dazu, die Stärke des so übertragenen Signals feinzusteuern. Das heute gebräuchliche Antidepressivum Imipramin mitsamt seinen zahlreichen Modifikationen entfaltet seine Wirkung, indem es den Hemmungsmechanismus hemmt und damit dem Serotonin, so es denn überhaupt freigesetzt wird, eine größere Wirksamkeit verschafft.
Mit der Geschichte dieses Medikaments, dessen Wirkung nur durch ein Zusammenwirken glücklicher Zufälle mit der Intuition der beteiligten Forscher entdeckt werden konnte, beginnt Florian Holsboer, Chef des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München und "Deutschlands bekanntester Psychiater" (Klappentext), sein Buch. Es handelt sich um eine eigenwillige Mischung aus Sachbuch zum Thema Depression und Autobiografie. Wir erfahren von seinen Vorfahren - immerhin war es sein Urgroßvater Willem Jan Holsboer (1834 – 1898), der nicht nur Davos zum Kurort für Lungenkranke entwickelte, sondern für seine Kurgäste auch eine eigene Bahnlinie baute, die berühmt gewordene Rhätische Bahn –, seiner Kindheit in den Trümmern der unmittelbaren Nachkriegszeit und in einer außergewöhnlichen Familienkonstellation sowie den wilden Zeiten von 1968, als er als Fachschaftssprecher im AStA der Universität München sogar ein bisschen politisch tätig war.
Wie das bei Psychiatern so üblich ist, fragt Holsboer augenzwinkernd auch für seine eigene Person danach, wie Ererbtes und Erlebtes die gegenwärtige Persönlichkeitsstruktur bestimmen – und lässt es bei der Frage bewenden. Es kann schon sein, dass er die Tatkraft und den Gestaltungswillen von seinem Urgroßvater hat; und was sagt das über ihn selbst? Nicht viel Neues.
Weiter geht die Erzählung mit seiner alles andere als geradlinigen Karriere. Holsboer hat ein komplettes Chemiestudium hinter sich gebracht, bevor er sich der Medizin zuwandte. In deren Hierarchie musste er sich mangels Stallgeruch erst mühsam durchsetzen. Nach Umwegen über Mainz und Freiburg und einigen am Ende abgelehnten Angeboten aus den USA wurde er 1988 auf seine gegenwärtige Position berufen. Offensichtlich ist seine Durchsetzungskraft erheblich. Da er selbst freimütig beschreibt, an wie vielen Stellen er sich mit seinem erfolgreich realisierten Gestaltungswillen unbeliebt gemacht hat, wird schon etwas dran sein.
Im wissenschaftlichen Teil geht es um die weitere Aufklärung der Mechanismen der Depression. Man beobachtet bei Depressiven eine "andauernde Erhöhung der Stresshormone, insbesondere des Cortisols". An Holsboers Institut wurde intensiv über den "kausalen Zusammenhang zwischen der andauernden Erhöhung des im Gehirn gebildeten Freisetzungshormons CRH (cortisol releasing hormone) und der Krankheitsentstehung" geforscht. Man beachte die vorsichtige Ausdrucksweise. Vereinfachungen wie "Stress verursacht Depression" sind bereits falsch.
Zum Schluss berichtet Holsboer, dass man in gewissen Fällen durch Analyse des Genoms darauf schließen könne, ob ein depressiver Patient auf ein bestimmtes Medikament ansprechen wird oder nicht – ein erster bescheidener Schritt zu einer "personalisierten Medizin", die für jeden Patienten die speziell für ihn optimale Therapie findet. Natürlich schmeckt dieses Konzept der Pharmaindustrie nicht besonders. Viel einträglicher wäre für sie ein Einheitsmedikament nach dem Prinzip des Schmieröls oder auch der Baseballkappe. "One size fits all", und die einzige Variationsmöglichkeit, entsprechend dem Bändchen mit der Lochleiste an der Rückseite der Kappe, besteht in der Dosierung.
Dass Holsboer der Schmieröltheorie nicht anhängt, ist offensichtlich. Merkwürdigerweise scheint er selbst ihr jedoch ein bisschen nachzutrauern. So beklagt er, dass es immer noch keine "objektive Labormethode" zur Diagnose der Depression gibt. Wenn es den einen Stoff, der dem Erkrankten helfen würde, schon nicht gibt, dann vielleicht wenigstens den einen Stoff, der die Erkrankung zuverlässig anzeigt?
In seinem Buch ergreift Holsboer dezidiert Partei in einem Richtungsstreit unter den Psychiatern, der nach seinen Worten bis heute andauert. Gegen seine Position, dass auch seelische Erkrankungen letztlich auf körperliche Fehlfunktionen zurückzuführen und vor allem durch die Analyse dieser physiologischen Prozesse zu erfassen seien, stehen nach seiner Auffassung die späten Anhänger des Dualismus, den man dem Philosophen René Descartes (1596 – 1650) zuschreibt: Die Seele sei ein vom Körper im Prinzip völlig unabhängiges Wesen, so dass es widersinnig sei, einer seelischen Erkrankung mit physiologischen Mitteln beikommen zu wollen.
Da der Dualismus heute allgemein als unhaltbar gilt, erscheinen Holsboers Gegner in seiner Darstellung als hoffnungslos gestrig, und er spart auch nicht mit Spott: Was für einen Sinn die herkömmliche Einteilung von Krankheitsursachen in "organisch" und "psychogen" (als Kürzel für "mit Labormethoden findet man nichts") wohl habe? Ob das Gehirn etwa kein Organ sei? Polemik in allen Ehren – aber man braucht nicht einer verstaubten Philosophie anzuhängen, um seelische Probleme mit, sagen wir, seelischen Mitteln anzugehen. Während sich in dem Buch dazu kein gutes Wort findet, räumt Holsboer auf seiner Website http://holsboer.de bereitwillig ein, dass unter gewissen Umständen bei einer Depression Psychotherapie durchaus angesagt sei.
Da er sich zu seinen Zeiten als Chemiker intensiv mit der Quantentheorie beschäftigt hat, ist ihm auch ein probates Denkmuster geläufig, um den scheinbaren Gegensatz der Philosophien aufzulösen: der Teilchen-Welle- Dualismus. Für den Gegenstand der Wissenschaft – hier ein Elementarteilchen, da das Gehirn – gibt es zwei konkurrierende und miteinander unvereinbare Beschreibungen: Entweder ist Licht eine Welle oder besteht aus Teilchen; entweder ist die Willensfreiheit – vom physiologischen Standpunkt – eine Illusion oder – vom psychologischen Standpunkt – eine offenkundige Realität. Zugleich sind beide Beschreibungen unentbehrlich, zumindest gegenwärtig. So gibt es für die Diagnose der Depression bislang nur die psychologische Beschreibung. Während aber in der Physik die friedliche Koexistenz beider Beschreibungsweisen durch einen komplizierten mathematischen Apparat hergestellt wird, ist an dergleichen für das Gehirn überhaupt nicht zu denken. Was man durch die eine Brille gut sieht, ist durch die andere gesehen im Allgemeinen so hoffnungslos verschwommen, dass in der Praxis, anders als in der Philosophie, ein Widerspruch zwischen beiden nicht dingfest zu machen ist.
Für die Durchsetzung wissenschaftlicher Ziele mag die Polemik ja hilfreich gewesen sein; von außen ist ihre Notwendigkeit nicht recht einzusehen.
Der neuronale Botenstoff Serotonin wird aus einer Nervenzelle freigesetzt, wandert durch den nur 15 Nanometer breiten synaptischen Spalt zwischen ihr und der benachbarten Nervenzelle, lagert sich dort an einen Rezeptor an und vollendet damit die Informationsübertragung von der einen Zelle zur anderen – wenn es nicht von seiner Absenderzelle vorzeitig wieder eingesammelt wird. Allem Anschein nach dient dieser Hemmungsmechanismus (reuptake) dazu, die Stärke des so übertragenen Signals feinzusteuern. Das heute gebräuchliche Antidepressivum Imipramin mitsamt seinen zahlreichen Modifikationen entfaltet seine Wirkung, indem es den Hemmungsmechanismus hemmt und damit dem Serotonin, so es denn überhaupt freigesetzt wird, eine größere Wirksamkeit verschafft.
Mit der Geschichte dieses Medikaments, dessen Wirkung nur durch ein Zusammenwirken glücklicher Zufälle mit der Intuition der beteiligten Forscher entdeckt werden konnte, beginnt Florian Holsboer, Chef des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München und "Deutschlands bekanntester Psychiater" (Klappentext), sein Buch. Es handelt sich um eine eigenwillige Mischung aus Sachbuch zum Thema Depression und Autobiografie. Wir erfahren von seinen Vorfahren - immerhin war es sein Urgroßvater Willem Jan Holsboer (1834 – 1898), der nicht nur Davos zum Kurort für Lungenkranke entwickelte, sondern für seine Kurgäste auch eine eigene Bahnlinie baute, die berühmt gewordene Rhätische Bahn –, seiner Kindheit in den Trümmern der unmittelbaren Nachkriegszeit und in einer außergewöhnlichen Familienkonstellation sowie den wilden Zeiten von 1968, als er als Fachschaftssprecher im AStA der Universität München sogar ein bisschen politisch tätig war.
Wie das bei Psychiatern so üblich ist, fragt Holsboer augenzwinkernd auch für seine eigene Person danach, wie Ererbtes und Erlebtes die gegenwärtige Persönlichkeitsstruktur bestimmen – und lässt es bei der Frage bewenden. Es kann schon sein, dass er die Tatkraft und den Gestaltungswillen von seinem Urgroßvater hat; und was sagt das über ihn selbst? Nicht viel Neues.
Weiter geht die Erzählung mit seiner alles andere als geradlinigen Karriere. Holsboer hat ein komplettes Chemiestudium hinter sich gebracht, bevor er sich der Medizin zuwandte. In deren Hierarchie musste er sich mangels Stallgeruch erst mühsam durchsetzen. Nach Umwegen über Mainz und Freiburg und einigen am Ende abgelehnten Angeboten aus den USA wurde er 1988 auf seine gegenwärtige Position berufen. Offensichtlich ist seine Durchsetzungskraft erheblich. Da er selbst freimütig beschreibt, an wie vielen Stellen er sich mit seinem erfolgreich realisierten Gestaltungswillen unbeliebt gemacht hat, wird schon etwas dran sein.
Im wissenschaftlichen Teil geht es um die weitere Aufklärung der Mechanismen der Depression. Man beobachtet bei Depressiven eine "andauernde Erhöhung der Stresshormone, insbesondere des Cortisols". An Holsboers Institut wurde intensiv über den "kausalen Zusammenhang zwischen der andauernden Erhöhung des im Gehirn gebildeten Freisetzungshormons CRH (cortisol releasing hormone) und der Krankheitsentstehung" geforscht. Man beachte die vorsichtige Ausdrucksweise. Vereinfachungen wie "Stress verursacht Depression" sind bereits falsch.
Zum Schluss berichtet Holsboer, dass man in gewissen Fällen durch Analyse des Genoms darauf schließen könne, ob ein depressiver Patient auf ein bestimmtes Medikament ansprechen wird oder nicht – ein erster bescheidener Schritt zu einer "personalisierten Medizin", die für jeden Patienten die speziell für ihn optimale Therapie findet. Natürlich schmeckt dieses Konzept der Pharmaindustrie nicht besonders. Viel einträglicher wäre für sie ein Einheitsmedikament nach dem Prinzip des Schmieröls oder auch der Baseballkappe. "One size fits all", und die einzige Variationsmöglichkeit, entsprechend dem Bändchen mit der Lochleiste an der Rückseite der Kappe, besteht in der Dosierung.
Dass Holsboer der Schmieröltheorie nicht anhängt, ist offensichtlich. Merkwürdigerweise scheint er selbst ihr jedoch ein bisschen nachzutrauern. So beklagt er, dass es immer noch keine "objektive Labormethode" zur Diagnose der Depression gibt. Wenn es den einen Stoff, der dem Erkrankten helfen würde, schon nicht gibt, dann vielleicht wenigstens den einen Stoff, der die Erkrankung zuverlässig anzeigt?
In seinem Buch ergreift Holsboer dezidiert Partei in einem Richtungsstreit unter den Psychiatern, der nach seinen Worten bis heute andauert. Gegen seine Position, dass auch seelische Erkrankungen letztlich auf körperliche Fehlfunktionen zurückzuführen und vor allem durch die Analyse dieser physiologischen Prozesse zu erfassen seien, stehen nach seiner Auffassung die späten Anhänger des Dualismus, den man dem Philosophen René Descartes (1596 – 1650) zuschreibt: Die Seele sei ein vom Körper im Prinzip völlig unabhängiges Wesen, so dass es widersinnig sei, einer seelischen Erkrankung mit physiologischen Mitteln beikommen zu wollen.
Da der Dualismus heute allgemein als unhaltbar gilt, erscheinen Holsboers Gegner in seiner Darstellung als hoffnungslos gestrig, und er spart auch nicht mit Spott: Was für einen Sinn die herkömmliche Einteilung von Krankheitsursachen in "organisch" und "psychogen" (als Kürzel für "mit Labormethoden findet man nichts") wohl habe? Ob das Gehirn etwa kein Organ sei? Polemik in allen Ehren – aber man braucht nicht einer verstaubten Philosophie anzuhängen, um seelische Probleme mit, sagen wir, seelischen Mitteln anzugehen. Während sich in dem Buch dazu kein gutes Wort findet, räumt Holsboer auf seiner Website http://holsboer.de bereitwillig ein, dass unter gewissen Umständen bei einer Depression Psychotherapie durchaus angesagt sei.
Da er sich zu seinen Zeiten als Chemiker intensiv mit der Quantentheorie beschäftigt hat, ist ihm auch ein probates Denkmuster geläufig, um den scheinbaren Gegensatz der Philosophien aufzulösen: der Teilchen-Welle- Dualismus. Für den Gegenstand der Wissenschaft – hier ein Elementarteilchen, da das Gehirn – gibt es zwei konkurrierende und miteinander unvereinbare Beschreibungen: Entweder ist Licht eine Welle oder besteht aus Teilchen; entweder ist die Willensfreiheit – vom physiologischen Standpunkt – eine Illusion oder – vom psychologischen Standpunkt – eine offenkundige Realität. Zugleich sind beide Beschreibungen unentbehrlich, zumindest gegenwärtig. So gibt es für die Diagnose der Depression bislang nur die psychologische Beschreibung. Während aber in der Physik die friedliche Koexistenz beider Beschreibungsweisen durch einen komplizierten mathematischen Apparat hergestellt wird, ist an dergleichen für das Gehirn überhaupt nicht zu denken. Was man durch die eine Brille gut sieht, ist durch die andere gesehen im Allgemeinen so hoffnungslos verschwommen, dass in der Praxis, anders als in der Philosophie, ein Widerspruch zwischen beiden nicht dingfest zu machen ist.
Für die Durchsetzung wissenschaftlicher Ziele mag die Polemik ja hilfreich gewesen sein; von außen ist ihre Notwendigkeit nicht recht einzusehen.
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