Zu Unrecht verkannt
Am 18. Juni 1858 erhielt Charles Darwin – sein wichtigstes Werk über die Entstehung der Arten war fast fertig – einen beunruhigenden Brief von einem gewissen Alfred Russel Wallace, der sich gerade auf den Molukken aufhielt. Wallace, ein gelernter Feldvermesser, er verdiente sich sein Geld unter anderem damit, weltweit Pflanzen und Tieren zu sammeln und nach England zu verkaufen. In dem Brief teilte er seine Gedanken über die Entstehung der Arten mit, die Darwins eigenen Konzepten fast wörtlich glichen. Darwin war schockiert von dem Schreiben, schließlich lag seine Artentheorie schon seit Jahren unveröffentlicht in der Schublade, und er fürchtete um seine Priorität. Dennoch brachte er die Fairness auf, den Brief zusammen mit einem von ihm selbst verfassten einschlägigen Artikel zu publizieren.
Zu den vielen Weltregionen, die jener Wallace aufsuchte, gehörte das Amazonasbecken, wo er Käfer, Schmetterlinge, Pflanzen und anderes sammelte. Dort hatte sich 1849 ein Freund, der junge Botaniker Richard Spruce (1817-1893), zu ihm gesellt. Spruce war in dieser Weltgegend völlig unerfahren, blieb aber volle 15 Jahre. Auf rund 800 Seiten schrieb er – in Form von Tagebucheinträgen, teils mit Skizzen, Zeichnungen und Karten, sowie in langen Briefen – alles auf, was er in dieser Zeit tat und wie es ihm dabei erging. Er selbst hat nie ein Wort davon veröffentlicht; das tat erstmals im Jahr 1908 sein alter Freund Wallace, der das Material zusammenfasste und in zwei Bänden herausgab. Jetzt endlich ist es als einbändige Erstausgabe mit fast 1000 Seiten in Deutschland erschienen.
Zu Land und zu Wasser durch den Dschungel
Der Wälzer ist keine Bettlektüre, aber er liest sich über weite Strecken wie ein Abenteuerroman, der den Vergleich mit Humboldts oder Darwins Werken nicht zu scheuen braucht. Spruce war meist ohne europäische Begleitung unterwegs und bezahlte Indigene dafür, etwa als Ruderer für ihn zu arbeiten oder beim Beschaffen von Objekten zu helfen, die für seine Kunden von Bedeutung sein könnten. Es ist schwer vorstellbar, was die Einheimischen wohl über den seltsamen weißen, offensichtlich wohlhabenden Mann dachten, der so eigenartige Dinge sammelte, die ihnen selbst kaum beachtenswert erschienen. Manche Exkursion fand im Sattel statt, und man kann nur staunen, dass die Gehilfen immer wieder geeignete Pfade im tropischen Regenwald fanden, auch wenn diese erst freigeschlagen werden mussten.
Was bei der Lektüre besonders auffällt, ist die Rücksichtslosigkeit des Autors gegenüber seiner eigenen Gesundheit, die ihn mehrfach aus dem Verkehr zog, aber nie am Weitermachen hinderte. 1860 erhielt er zusätzlich noch einen Auftrag von offizieller Seite. Die indische Regierung verlangte nach Samen und Jungpflanzen des Chinarindenbaums, eines Gewächses innerhalb der Gattung Cinchona, aus dessen Rinde sich Chinin extrahieren lässt, ein sehr wichtiges Mittel gegen Malaria und Fieber. Diese Anweisung war nicht leicht zu erfüllen, denn Spruce musste hierfür die richtige Art, den Roten Chinarindenbaum (Cinchona succirubra, heute C. pubescens) finden. In den Andentälern südlich der Stadt Quito, wo es welche gab, herrschte Bürgerkrieg; zudem brauchte Spruce eine Genehmigung für sein Begehren. Und selbst wenn er auf entsprechende Pflanzen stieß, musste er ihre Samen und Stecklinge so verpacken und transportieren, dass sie erhalten blieben. Das konnte schon an ganz einfachen Dingen scheitern: Woher beispielsweise bekommt man im Regenwald Kisten? Wie befördert man die Pflanzenteile trocken beziehungsweise lebendig bis an die Küste und dann auf ein Schiff?
Die gleichen Probleme stellten sich natürlich auch für Herbarblätter und zoologische Präparate. Spruce war eigentlich – wie er selbst mehrfach betonte – ein Bryologe, ein Mooskenner, und dabei auch noch spezialisiert auf die meist winzigen Lebermoose (Hepaticae). Die anderen Pflanzen sammelte er »nebenbei«, weil sie Geld brachten, und unterschätzte die Anzahl ihrer (oft neuen) Arten. 1851 hatte er nach eigenem Bekunden »eine Sammlung von über 300 Arten in Barra (nahe Manaus) angelegt …«, was ungefähr 10 000 Papierbögen mit einzelnen Exemplaren oder Teilen davon entsprach. Sein Bedarf nach weiterem Papier stieg – und nach Holzkisten, die eigens angefertigt werden mussten.
Spruces Sorge um die vielen Sammlerstücke entlud sich in einer gewaltigen Wut auf die Schädlinge in einer seiner Unterkünfte: »Das Strohdach ist voller Ratten, Vampire, Skorpione, Kakerlaken und anderer Heimsuchungen der Gesellschaft.« In einer einzigen Nacht trugen Sauba-Ameisen von seinem Maniokmehl so viel fort, wie er selbst in einem Monat verbrauchte. Termiten hatten jeden Pfosten und Balken des Hauses ausgehöhlt; Blutflecken auf dem Boden zeigten die Aktivität von Vampir-Fledermäusen an. Spruce trug beim Schlafen Strümpfe und ein Tuch über dem Kopf, berichtete aber von Mitbewohnern, die beim Aufwachen oft mehrere Vampire auf sich sitzen hatten – an den Zehen, der Nase oder am Ohr. Dennoch kannte der Botaniker keine einzige Person, die von einem Vampir geweckt worden war!
Wie schon zuvor Humboldt, quälte Spruce sich am Chimborasso bis auf 12 500 Fuß (rund 3800 Meter) hinauf, wurde im Regenwald von Mücken zerstochen, kämpfte sich in Stiefeln durch sumpfige Wälder und fasste in eine grüne Schlange, als er eine Ranke vor sich beiseiteschob. Er überstand ein Erdbeben in den Anden bei Quito – und vergaß dennoch nie, zu sammeln und alles aufzuschreiben. Auch die Indigenen interessierten ihn. Er zeichnete ihre Gesichter, ihre Häuser und Dörfer und bestätigte die Erzählungen über wehrhafte Frauen, die »Amazonen«. Es lässt sich hier unmöglich alles wiedergeben, was er in seinen Schriften thematisiert – man bekommt aber den Eindruck, abenteuerlicher als zu seinen Zeiten kann es kaum zugehen.
Acht Karten ergänzen den Text; ein hervorragendes Glossar der verwendeten landesüblichen Bezeichnungen, ein Personenregister und ein ebenfalls sehr sorgfältiges Verzeichnis der wissenschaftlichen Pflanzennamen runden das schöne Buch ab. Rein botanische Berichte mit langen Pflanzenlisten sind in kleinerer Schrift gedruckt als der übrige Text und können bedenkenlos überlesen werden.
Richard Spruce hätte mehr Anerkennung in Deutschland verdient und wird insofern seit 150 Jahren unangemessen übergangen. Die rund 50-seitige biografische Einführung zu Beginn des Buchs macht darauf zu Recht aufmerksam. Das wissenschaftshistorische Werk und seine jetzige Herausgabe samt verlegerischem Risiko haben großen Respekt verdient.
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