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»Cancel Culture«: Auf der Welle »Cancel Culture« nur mitgeschwommen

Julian Nida-Rümelin plädiert für die deliberative Demokratie und Toleranz. Die aktuelle Debatte kommt allerdings zu kurz.
Darf man im Netz alles sagen?

»Cancel Culture« ist ein Modethema, das vorwiegend in Feuilletons und Universitäten stattfindet; die große Mehrheit lässt es eher kalt. Wollen also Autor und Verlag mit dem reißerischen Titel die aktuelle Mode in den Medien nur als Marketinggag nutzen, wenn sie, wie kürzlich geschehen, ein Buch auf den Markt werfen, das zwar mit dem Begriff im Titel daherkommt, in dem aber selbst wenig davon zu lesen ist?

Der bekannte Philosoph und ehemalige Kulturstaatsminister im Kabinett Schröder, Julian Nida-Rümelin, hat es nicht nötig, auf dieser Welle mitzuschwimmen und sein neues Buch »›Cancel Culture‹. Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken« zu nennen. Ob der Verlag auf den Titel gedrungen hat, bleibt sein Geheimnis.

Wie jeder gute analytische Philosoph beginnt Nida-Rümelin sein Buch mit der Erklärung seines Anspruchs: »Dieser Essay ist nicht ein weiterer Beitrag zu einem vordergründigen politischen Schlagabtausch … Es handelt sich um den Versuch einer Klärung der Begriffe und Argumente.« Es geht ihm darum, »Demokratie zu bewahren und zu stärken«, insbesondere indem er immer wieder auf das Motiv der Aufklärung und der systematischen Analyse zurückgreift. Unter »Cancel Culture« versteht er »eine kulturelle Praxis«, »die Menschen abweichender Meinungen zum Schweigen bringt«, aus dem Diskurs ausgrenzt oder marginalisiert oder sogar Andersdenkende »tötet, verfolgt oder ihnen Nachteile auferlegt …«.

Was auf den knapp 160 Seiten folgt, ist eine Lektion in westlicher Demokratie, angefangen – philosophisch üblich – bei Platon und Aristoteles. Es folgt der große Sprung zu Thomas Hobbes, John Locke und schließlich zu Immanuel Kant, der die Würde des Menschen ins Zentrum des politischen Denkens hob. Daran schließt sich ein kurzer Blick auf Ludwig Wittgensteins »Über Gewissheit« und John Rawls’ »Theorie der Gerechtigkeit« an. Den Fall Galileo Galilei würdigt er, ebenso den »arco costituzionale« in Italien, ein Zusammengehen demokratischer Parteien gegen rechte und linke Entwicklungen, ohne sie vom Diskurs auszuschließen.

Das alles ist korrekt dargelegt, Nida-Rümelin ist ein Kenner der politischen Philosophie und seiner Gewährsleute, ebenso der Grundsätze moderner Verfassungen westlicher Demokratien. Sein Ideal ist und bleibt der Dialog, sei dieser noch so kontrovers: Ihm gilt über allem der Wettbewerb von Argument und Gegenargument, in dem das bessere sich durchsetzen möge. Zugleich plädiert er für eine deliberative Demokratie, in der die Bürger als Ratgeber in die Entscheidungen eingebunden sind. Sie sollen sich für ihre Gemeinden und Staaten einsetzen und sich nicht nur als Konsumenten vom Staat alimentieren lassen.

Am Schluss des Buches folgt »Eine kleine Kasuistik« von 48 Beispielen und Fällen von »Cancel Culture« (zusammengestellt von Nathalie Weidenfeld) – angefangen bei Echnaton im 2. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung und endend in der Gegenwart bei Kathleen Stock (Sussex), Harald Martenstein (Tagesspiegel) und den evangelikal befeuerten Kampagnen in den USA, Bücher aus Bibliotheken, Unterricht et cetera auszuschließen, die sich mit strittigen/aufwühlenden Themen wie Rassismus, Sexualität, kultureller Diversität und LGTBQ befassen.

Der Essay macht augenfällig, dass das Phänomen »Cancel Culture« kein auf die Gegenwart begrenztes ist. Es existiert seit Urzeiten in allen Kulturen. Zu allen Zeiten haben Machthaber, die Macht gewinnen und festigen wollten, Meinungen unterdrückt und missliebige Personen aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen. Dagegen hilft nur, so der Autor, eine gefestigte Demokratie und gegenseitige Toleranz in der öffentlichen Diskussion.

Das Buch ist seinem Anspruch nach gelungen, alles ist korrekt und sehr verständlich geschrieben. Ihm und seinem Autor kann man getrost vertrauen, auch seine Positionen teilen. Und trotzdem erscheint mir das Buch gleichsam steril und blutleer, zu distanziert geschrieben. Da findet keine Auseinandersetzung mit aktuellen Beispielen statt und keine Einordnung der gegenwärtigen Tendenzen. Die Moralverschiebung in der Gegenwart berührt das Mitglied des Deutschen Ethikrates seltsamerweise nicht. Nida-Rümelin fegt souverän über die vorhandene öffentliche Debatte hinweg, er schwebt über ihr. Die 48 Fälle am Schluss können unter diesem Blick sogar nur als Pflichtbeigabe betrachtet werden.

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