Buchkritik zu »Darwins gefährliche Erben«
Je mehr menschliche Gene und ihre Funktionen entschlüsselt werden, desto mehr Nahrung erhält die Diskussion darüber, inwieweit der Mensch von seinen Erbfaktoren dirigiert wird. Eine extreme Position vertritt der Soziobiologe Richard Dawkins mit seiner These, wir seien von Natur aus nur "Überlebensmaschinen" und dienten der Weitergabe der "egoistischen Gene" an unsere Nachkommen. Hinter jedem menschlichen Verhalten sieht Dawkins das bedingungslose Wirken einzelner Gene. Sie streben auf diesem Wege danach, sich reproduzieren zu lassen, und sind folglich die alleinigen Angriffspunkte der Selektion. Diese extreme und einseitige Ausprägung von Ultra-Darwinismus und Reduktionismus bleibt naturgemäß nicht ohne Widerspruch, und Steven Rose ist seit Jahren einer ihrer erklärten Gegner. Der Londoner Neurobiologe weiß um die politischen Implikationen des Themas und will, da ihm die Inhalte und der "soziale Rahmen seiner Wissenschaft am Herzen" liegen, die öffentliche Meinungsbildung nicht allein Autoren wie Dawkins überlassen; er warnt vor dem ideologischen Gehalt von dessen Thesen. Mit seinem neuen Buch legt Rose eine gründliche Auseinandersetzung vor. Dabei verfällt er keineswegs ins andere Extrem; er bleibt auf dem Boden des Materialismus, akzeptiert den Darwinismus als zentrale Theorie und zitiert zustimmend den Populationsgenetiker Theodosius Dobzhansky: "Nichts in der Biologie ergibt Sinn, außer im Lichte der Evolution." Im vorliegenden Buch konzentriert er sich auf die naturwissenschaftliche, biologie-interne Diskussion. Die Wissenschaft kann das Verhältnis von Ursache und Wirkung auf verschiedenen Ebenen untersuchen. Warum springt ein Frosch? Je nach Arbeitsgebiet und erkenntnistheoretischem Standpunkt antwortet ein Biologe: "Weil sich die Muskeln zusammenziehen", "weil der Frosch einer Gefahr entfliehen will" oder "weil sich sein Verhalten so entwickelt hat". Auf einer dieser Ebenen, so Rose, hat der Reduktionismus seinen legitimen Platz. Aber seine Erhöhung zur Weltsicht beruhe sowohl auf ungenügenden Voraussetzungen als auch auf Überinterpretation wenig überzeugender Versuchsergebnisse. Rose löst sich vom Gen als alleinigem Untersuchungsgegenstand und ordnet die Zusammenhänge auf den einzelnen Stufen biologischer Komplexität: vom Gen über die Zelle zum Organismus. "Das Gen für" einen bestimmten Wesenszug kann es in Roses Augen gar nicht geben, denn in einem Lebewesen mit eigener Geschichte, das ständig mit der Umwelt im Wechselspiel steht, antworten jeweils mehrere Gene auf die sich ändernde Umgebung. Die Genomforschung wird diese Einschätzung eher erhärten als entkräften, zumal Wissenschaftler verstärkt nicht mehr nur einzelne Gene beschreiben, sondern deren Interaktionen und ihr Zusammenwirken beim Entstehen der Phänomene untersuchen. Die Sprechweise des Ultra-Darwinismus vermag zwar mit eingängigen Metaphern wie der vom "egoistischen Gen" zu faszinieren, läuft dabei aber Gefahr, die Dinge vereinfacht darzustellen: mit dem Ergebnis, dass Resultate außerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft verzerrt wahrgenommen werden und sich unerfüllbare Hoffnungen an sie knüpfen. Auf eine sachliche Sprache gestützt und mit Rückgriffen auf Wissenschaftsphilosophen wie Karl R. Popper und Thomas Kuhn, verleiht Rose der Diskussion erkennbar mehr kritische Substanz und das nötige Profil – und zieht ein für uns attraktives Fazit: "Die Biologie macht uns frei."
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