Direkt zum Inhalt

Blick über den Tellerrand

Lesende "in eine lebendige innere Auseinandersetzung zu bringen", danach strebt Uwe Britten laut der Verlags-Website mit seiner Reihe "Psychotherapeutische Dialoge". In seinem neuen Band "Hirnforschung und Psychotherapie" stellen sich Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin, und Gerhard Roth, Professor am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen, Brittens Fragen. Sie diskutieren über das komplexe Zusammenspiel im Gehirn und erläutern, wie therapeutische Hilfsangebote funktionieren können. Dabei wird dem Leser schnell klar, was den beiden am Herzen liegt – nämlich ein offener Austausch zwischen den Disziplinen.

Das Buch bietet viele aufschlussreiche Antworten. Was ist ein Gehirn? Ein Oberschlundganglion! Sind psychische Erkrankungen vererbbar? Eher weniger. Es dürfte sich um ein komplexes Zusammenspiel aus Genen und Umwelt handeln, das bisher auch nicht durch Zwillingsstudien entschlüsselt werden konnte. Denn bei solchen blieben beispielsweise genetische Varianten zwischen eineiigen Zwillingen – welche es in der Natur durchaus gibt – meist unberücksichtigt.

Orientierung an anderen

Zudem dreht sich das Gespräch um die wichtige Rolle, die Bezugspersonen und die Gesellschaft bei der menschlichen Entwicklung einnähmen: Vor allem von ihnen lernen wir, in der Welt zurechtzukommen, und nicht so sehr aus eigenen Erfahrungen heraus, so Roth. Verhält sich ein Mensch von der Norm abweichend, diagnostizieren Ärzte und Psychotherapeuten oft eine psychische Störung gemäß ICD-10 und DSM-5. Beide Diagnosesysteme erfassen laut Heinz aber zu wenig den persönlichen Leidensdruck der Betroffenen sowie Beeinträchtigungen im Umgang mit anderen. Im Abschnitt "Was wissen wir?" machen die Gesprächspartner deutlich, wo noch Lücken im Erkenntnisstand klaffen, dass die Nutzung mancher Softwarepakete Studienergebnisse verzerrt und dass sich hinter widersprüchlichen Ergebnissen oft ein tieferer Zusammenhang verbirgt.

In "Psychotherapie ist für die Psyche da" kritisieren die Professoren vorherrschende und oft vereinfachte Bilder, wie das des präfrontalen Kortex als zentrale Schaltstelle des Gehirns. Andere Regionen würden hierbei ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, meinen die Autoren. Zudem fordern sie eine Ausweitung der Forschung auf Fragen wie: Warum sind Psychosen im Lauf der Evolution nicht verschwunden? Bringen sie womöglich Vorteile mit sich?

Nachgehakt

Britten gelingt es, seine Leser zum Nachdenken anzuregen. Er stellt die Aussagen der Gesprächspartner auch mal in Frage und bohrt nach. Als Roth die Sprachwahl der Geisteswissenschaften kritisiert, holt ihn der Interviewer zurück zur eigentlichen Frage – nämlich der nach den sprachlichen Unzulänglichkeiten in den Naturwissenschaften – und greift dabei Roths eigene Wortwahl auf. Dieser hatte einst erklärt, das Wernicke-Areal sei für die Wortbedeutung und das Verstehen einfacher Sätze zuständig. Es gebe eben keinen CEO im Gehirn, so Britten, die Formulierung sei demnach ungenau.

Roth und Heinz stimmen überwiegend in ihren Ansichten überein, nur an wenigen Stellen (etwa bei der Diskussion um freudsche Annahmen) besteht eine gewisse Diskrepanz zwischen ihnen. Anekdoten über persönliche Erlebnisse lockern ihre Ausführungen auf, und vereinzelnd verdeutlichen Abbildungen den Sachverhalt. Manchmal hätte man sich allerdings ein Zwischenfazit gewünscht, bevor sich die Gesprächspartner einem neuen Thema zuwenden. Beide hegen die Hoffnung, dass die Hirnforschung Fortschritte in der Psychotherapie mit sich bringt, allerdings gehe das nur mit "klar strukturierten klinischen" Fragestellungen. Ein lesenswertes Buch, das an Psychotherapeuten und Hirnforscher appelliert, sich besser auszutauschen und voneinander zu lernen.

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Mehrere Higgs-Teilchen vor dem Aus?

2012 wurde der Nachweis des Higgs-Teilchens vom CERN bekannt gegeben, seitdem wird fleißig weiter geforscht. Warum gibt es mehr Materie als Antimaterie? Was ist Dunkle Materie? Diese und weitere Fragen behandeln wir in unserer Titelgeschichte. Außerdem: Die seelische Gesundheit unserer Kinder.

Gehirn&Geist – Faszination Gehirn: 38 Infografiken über unser Denken, Fühlen und Handeln

Weil Sprache allein nicht immer das beste Kommunikationsmittel ist, werden seit 2013 ausgewählte Inhalte auf eine andere Art präsentiert: in Infografiken. Denn manches lässt sich in Bildern so viel einfacher darstellen als mit Worten. In dieser Spezialausgabe von »Gehirn&Geist« präsentieren wir ein »Best-of« unserer Infografiken zu Psychologie, Hirnforschung und Medizin. Wie funktioniert unser Orientierungssinn? Was haben Darmbakterien mit der Psyche zu tun? Was macht eine angenehme Unterhaltung aus? Wie wirkt Alkohol im Gehirn? Und warum lassen wir uns im Supermarkt so leicht zu Spontankäufen animieren? Antworten auf diese und viele weitere Fragen finden Sie in dieser Spezialausgabe von »Gehirn&Geist«. Jede der 38 Grafiken im Heft widmet sich einem eigenen Thema.

Spektrum - Die Woche – Wann klingt eine Sprache schön?

Klingt Italienisch wirklich schöner als Deutsch? Sprachen haben für viele Ohren einen unterschiedlichen Klang, dabei gibt es kein wissenschaftliches Maß dafür. Was bedingt also die Schönheit einer Sprache? Außerdem in der aktuellen »Woche«: Rarer Fund aus frühkeltischer Zeit in Baden-Württemberg.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.