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Big Other sieht dich

Die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff liefert eine umfassende Macht- und Wirtschaftskritik an der Plattformökonomie.

Der Datenskandal um die Analysefirma Cambridge Analytica, bei dem Informationen von 87 Millionen Facebook-Nutzern weitergegeben wurden, hat der Öffentlichkeit einmal mehr vor Augen geführt, dass Online-Identitäten zu handelbaren Gütern geworden sind. Dass Nutzer Online-Dienste wie Facebook oder Google mit ihren Daten »bezahlen«, ist mittlerweile ein Allgemeinplatz. Diese Technologiekonzerne bieten ihre Dienste nur vermeintlich kostenlos an; tatsächlich erheben sie den Preis, die Nutzer zu durchleuchten, um passgenaue Werbung zu schalten. Die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff hat dafür schon vor einiger Zeit den Begriff des »Überwachungskapitalismus« geprägt. In ihrem neuen, 727 Seiten starken Werk analysiert sie dieses Motiv in allen Facetten.

Zuboff definiert den Überwachungskapitalismus als »neue Marktform, die menschliche Erfahrung als kostenlosen Rohstoff für ihre versteckten kommerziellen Operationen der Extraktion, Vorhersage und des Verkaufs reklamiert.« Kennzeichnend für diese Mutation des Kapitalismus sei, dass Maschinenintelligenz als neues Produktionsmittel überschüssige Nutzerdaten, den so genannten Verhaltensüberschuss, zu Vorhersageprodukten verarbeitet, die prognostizieren sollen, was die Nutzer fühlen, denken und tun. Diese Vorhersageprodukte werden auf neuen Absatzplätzen verkauft: den »Märkten für zukünftiges Verhalten«.

Beifang im Wert von 10 Milliarden Dollar

Der Akteur, der sich am besten auf diese Raffinierung von Verhaltensdaten versteht, heißt Google. Für Zuboff ist der Konzern ein ähnlich epochemachendes Unternehmen wie Ford, das mit seiner Fließbandproduktion ein ganzes Industriezeitalter prägte. Google sei es mit seinen algorithmischen Werkzeugen gelungen, jene Rohstoffe, die einst nur Beifang der Websuche waren, in ein wertvolles Produkt zu verwandeln. 2004 habe Googles Werbeplattform Adsense bereits einen Umsatz von täglich einer Million Dollar abgeworfen; 2010 lag der Umsatz bei mehr als 10 Milliarden Dollar im Jahr.

Dass die ökonomischen Veränderungen mit Machtverschiebungen einhergehen, ist für Zuboff nur logisch. Die Autorin entwickelt in der Traditionslinie des Behaviorismus die Theoriefigur der »instrumentären Macht«. »Der Überwachungskapitalismus ist der Puppenspieler, der uns durch das Medium des allgegenwärtigen digitalen Apparats seinen Willen aufzwingt«, schreibt Zuboff. Diesen Apparat bezeichnet die Autorin in Anspielung an Orwells »Big Brother« als »Big Other« – das Große Andere. Darunter versteht sie die »wahrnehmungsfähige, rechnergestützte und vernetzte Marionette, die das menschliche Verhalten rendert, überwacht, berechnet und modifiziert«.

Das Ziel bestehe nicht in der Beherrschung der Natur, sondern des menschlichen Wesens. »Der Brennpunkt hat sich verschoben: von Maschinen, die die Grenzen des Körpers überwinden sollten, hin zu Maschinen, die das ubiquitäre Wissen dazu einsetzen, im Dienste von Marktzielen das Verhalten von Einzelnen, Gruppen und Populationen zu verändern«, konstatiert Zuboff. »Diese globale Implementierung instrumentärer Macht überwindet und ersetzt die Innerlichkeit des Menschen, die sowohl den Willen zum Wollen als auch unsere Stimme in der ersten Person nährt. Damit trägt sie dazu bei, dass die Demokratie schon an der Wurzel verkümmert.« Der Überwachungskapitalismus sei inhärent antidemokratisch und antiegalitär, er privatisiere und konzentriere das Wissen und oktroyiere uns die sozialen Beziehungen einer »vormodernen absolutistischen Autorität« auf.

Zuboff, vielen Lesern noch aus den großen Debatten im Schirrmacher-Feuilleton der FAZ bekannt, ist eine wortgewaltige Kritikerin der Plattformökonomie. Bereits 1988, lange bevor Google & Co. gegründet wurden, legte sie mit ihrem Werk »In the Age of the Smart Machine« eine profunde Analyse der Informationstechnologien und Machtbeziehungen vor. Auch in ihrem jüngsten Buch beweist sie Sachverstand, der weit über ihren ökonomischen Hintergrund hinaus reicht. Schonungslos legt sie die manipulativen und teils menschenverachtenden Geschäftspraktiken der Tech-Konzerne offen. Kenntnisreich und für den Leser allgemein verständlich beschreibt Zuboff die Entstehung eines neuen Markts, der die GAFA-Konzerne (Google, Apple, Facebook, Amazon) zu den wertvollsten Unternehmen der Welt gemacht hat. Man kann das Werk schon jetzt neben Pikettys »Das Kapital im 21. Jahrhundert« (2014) oder Laniers »Wem gehört die Zukunft?« (2014) einordnen.

Das analytische Verdienst der Autorin besteht darin, dass sie nicht nur die ökonomischen Aspekte, sondern auch die gesellschaftlichen Implikationen in den Blick nimmt: Der ungezügelte Raubbau an Verhaltensdaten, so die These, führe zu einer »unbefugten Enteignung menschlicher Erfahrung« und »Aufhebung des natürlichen Rechts auf Freiheit«. Was also ist zu tun? Zuboff schreibt: »Wenn wir die Demokratie in den kommenden Jahrzehnten erneuern wollen, brauchen wir dazu das Gefühl der Entrüstung, ein Gespür für den Verlust dessen, was man uns da nimmt.« Der Auftakt zu diesem Reflexionsprozess ist mit diesem Buch gelegt.

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