Der normale Wahnsinn
Keine Frage, Julian Strauß hat ein schweres Erbe angetreten. Denn populärwissenschaftliche Fallgeschichten waren das Spezialgebiet des 2015 verstorbenen Neurologen und Bestsellerautors Oliver Sacks. Wie Sacks richtet sich Strauß an Leser, die sich für "psychologische und psychiatrische Phänomene und Erkrankungen nicht nur interessieren, sondern diese auch verstehen wollen". In zwölf Kurzgeschichten möchte der Chefarzt einer Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an ganz unterschiedliche, bisweilen auch außergewöhnliche Erkrankungen heranführen. Denn, so betont er zu Recht, konkrete Fälle könne man sich besser merken als Lehrbuchwissen. Etwa die Geschichte von Johanna, die sich weder erinnern kann, warum sie im ICE nach Bremen saß, noch weshalb sie versucht hat, sich dort umzubringen – und der schon des Öfteren "die Zeit verloren ging". Oder die von Rita, die durch einen Trick entdeckt, dass sie mit einem Fremden zusammenlebt, der sich als ihr Mann ausgibt.
Jeder Fall endet mit einem ausführlichen Epilog, in dem der Autor die Symptomatik einordnet. Neben bekannten Krankheitsbildern wie Depressionen schildert er auch eher unbekannte und seltene wie das Capgras-Syndrom, Chorea Huntington oder die dissoziative Identitätsstörung.
Fiktive Schicksale
Leider merkt man den Geschichten immer wieder an, dass Strauß sie, wie im Vorwort erwähnt, frei erfunden hat. Sie wirken an der ein oder anderen Stelle doch sehr konstruiert. Außerdem irritiert, dass immer wieder die Perspektive wechselt: Eigentlich zeigen die Fallgeschichten vor allem die subjektive Sicht des Betroffenen auf; das macht den Reiz des Buchs aus. Ab und zu streut der Autor dann aber doch wieder die Gedanken und Gefühle des behandelnden Arztes ein, vermutlich, um über die hohe Arbeitsbelastung und Mängel im Gesundheitssystem berichten zu können.
An anderer Stelle lehnt sich Strauß mit seinen Pauschalisierungen weit aus dem Fenster. Etwa wenn er im Bezug auf frühere Traumata in der Kindheit behauptet: "Kleine Kinder haben nicht die Möglichkeit, Ereignisse sprachlich zu äußern und zu bewerten und in einem anderen Gesamtkontext zu betrachten. (...) Die Abspaltung bleibt hier die einzige Möglichkeit." Ebenso bescheinigt er Menschen mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung einen "Mangel an Empathie". Doch genau diese landläufige Erklärung zweifeln Wissenschaftler wie der Kognitionsforscher Fritz Breithaupt inzwischen an. Viele Psychopathen litten nicht unter zu wenig Empathie, sondern an einer krankhaften Sucht danach. Mancher labe sich regelrecht am Leiden seines Opfers, weil er sich so gut in dieses einfühlen könne.
Trotz solcher Schwächen sind die Fallgeschichten interessant und zeigen auf, wie komplex psychische Störungen sind, welche Belastung sie für die Betroffenen und deren Umfeld darstellen und wie wenig wir mitunter über die Erkrankungen wissen. Und sie machen deutlich: Es gibt keine klare Grenze zwischen gesund und krank.
Hinweis der Redaktion: Spektrum der Wissenschaft und Springer Science+Business Media gehören beide zur Verlagsgruppe Springer Nature. Dies hat jedoch keinen Einfluss auf die Rezensionen. Spektrum der Wissenschaft rezensiert Titel aus dem Springer-Verlag mit demselben Anspruch und nach denselben Kriterien wie Titel aus anderen Verlagen.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben