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»Der lange Schatten Maria Montessoris«: Keine Heldin der Pädagogik

Sabine Seichter präsentiert Maria Montessori als Vordenkerin einer fragwürdigen Optimierungsideologie. Ihre Kritik ist relevant, aber nicht differenziert genug.
Maria Montessori abgebildet auf einem 1000 Lire Schein

Spielzeug, Schränke, Schulen – »Montessori« gilt vielen Eltern und Fachleuten zugleich als Qualitätsmerkmal für eine hochwertige Pädagogik. Bereits Kleinkinder sollen sich demnach in einem bewusst gestalteten Umfeld bestmöglich entwickeln. Ziel ist dabei, die Individualität und Selbstständigkeit der Kinder zu fördern: »Hilf mir, es selbst zu tun!«, lautet der populäre Slogan des Entwicklungskonzepts, das auf die italienische Ärztin Maria Montessori zurückgeht, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts dafür stark machte, unseren Umgang mit Kindern zu revolutionieren.

So erzählt, klingt diese Darstellung wie das Epos, das es in dem Historienfilm »Maria Montessori« auf die Kinoleinwand geschafft hat. Das vorliegende Buch zeichnet dagegen ein aktuelles Bild der Pädagogik Montessoris, das auf deren dunkle Seiten aufmerksam macht. In »Der lange Schatten Maria Montessoris« kritisiert die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter die »unkritische Heldinnenverehrung« der italienischen Ärztin und den »pädagogische(n) Trödelmarkt« rund um das Label »Montessori«, die davon ablenkten, was dieser Pädagogik eigentlich zu Grunde liege: ein durch und durch biologistisches Denken. Dieses beruhe, schreibt die Autorin, auf den eugenischen Bestrebungen der vermeintlichen Höherentwicklung weißer Menschen, die Anfang des 20. Jahrhunderts die Medizin geprägt hätten: »Die zu dieser Zeit grassierende Angst vor ›Degeneration‹ der (italienischen) ›Rasse‹ beherrscht Montessoris Denken von Anfang an durch und durch«, schreibt Seichter. Sie führt dazu unter anderem an, dass sich Montessori im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Arbeit stark für das Vermessen menschlicher Körper interessiert und den »normalen« menschlichen Körper in starkem Kontrast zu allem »Anormalen« positioniert habe – Exklusion sei statt Inklusion folglich das eigentliche Motiv ihrer anschließenden pädagogischen Arbeit gewesen.

Eher Abrechnung denn Auseinandersetzung

Daher, führt die Autorin weiter aus, seien Montessoris Ideen in den 1920er Jahren anschlussfähig an den italienischen Faschismus gewesen. Montessori habe den Pakt mit dem italienischen Diktator Benito Mussolini sogar aktiv gesucht: »Aus der Korrespondenz zwischen Mussolini und Montessori geht deutlich hervor, wie Montessori mit vollem Engagement für die Verbreitung ihrer Methode im faschistischen Italien wirbt, wie bereitwillig sie für den faschistischen Dienst am Vaterland strategische Änderungen in ihren Texten vornimmt und wie sehr sie sich um eine kontinuierliche und zuverlässige Unterstützung Mussolinis bemüht.«

Neu sind diese Erkenntnisse über Montessori zumindest in Fachkreisen nicht – Seichter legt allerdings eine Interpretation vor, die in ihrer Schärfe durchaus polarisiert. Das Buch liest sich nicht so sehr als differenzierte Auseinandersetzung mit seinem Sujet, sondern vielmehr als unmissverständliche Abrechnung mit Montessori und ihrer Anhängerschaft im deutschsprachigen Raum. Zudem wendet sie sich gegen Tendenzen in den Lebenswissenschaften, die gegenwärtig etwa mit der Pränataldiagnostik den »in der westlichen Zivilisation tief verwurzelten eugenischen Züchtungsphantasien neuen Schwung« (141) gäben – eine wichtige Kritik, die aber einer deutlich komplexeren und differenzierteren Auseinandersetzung bedarf, als sie dieses Buch bietet.

Dessen ungeachtet, tut die Autorin gut daran, an den historischen Kontext der Montessori-Pädagogik zu erinnern und damit die Verklärung der Person und »Marke« Montessoris, die jungen Eltern überall begegnet, zu hinterfragen. Zu den Stärken dieses polarisierenden Buchs gehört vor allem Seichters These, dass Montessoris Ideale sehr gut zu unseren gegenwärtigen Leistungsmaximen passen. Die Montessori-Pädagogik setze nämlich auf eine »vom Kind verinnerlichte Selbstdisziplin«, in der sich all das, was ein Kind qua Kindsein auszeichne, ins Gegenteil verkehre: »Kein impulsives, kein spontanes, kein kreatives, kein phantasievolles, kein frei spielendes, kein schreiendes, kein tobendes; mit andern Worten: in Montessoris Lern- und Arbeitsräumen ist kein individuelles Kind (mehr) zu finden. Alle sind normalisiert«, schreibt die Autorin. Die zentrale Losung des Montessori-Ansatzes »Hilf mir, es selbst zu tun!« passe daher gut zur »Klaviatur neoliberalen Erziehens«, die auf Anpassung, Selbstoptimierung und Leistungsmaximierung setze statt auf wirkliche Diversität und ein soziales Miteinander – eine These, die sich durchaus breit zu diskutieren lohnt.

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