Anlass zu Zuversicht?
Da der normale Alltag keine Nachricht wert ist, dominieren in den Medien die sensationellen Ausnahmen. Krieg und Verbrechen, Gewalt und amoralische Extravaganzen schaffen es in die Top-Schlagzeilen, nicht jedoch das tägliche Leben der weitaus meisten Menschen. Daraus entsteht der Eindruck, überall nähmen die Untaten zu und es herrsche ein allgemeiner sittlicher Verfall. Anhand von Fakten tritt der Philosoph Michael Shermer den Gegenbeweis an.
Seine Grundthese besagt: Seit 500 Jahren, als mit der europäischen Aufklärung der Siegeszug von Wissenschaft und Technik die Welt zu erfassen begann, hat die Menschheit auch in moralischer Hinsicht enorme Fortschritte gemacht. Die Zivilisierung hat erreicht, dass Kooperation und Altruismus nicht mehr auf die Familie, den Clan, den Stamm oder die Ethnie beschränkt bleiben, sondern ganze Nationen und Staatenbünde prägen. Tribale Konflikte sind nicht mehr die Regel, alltägliche Probleme werden fast immer friedlich – notfalls vor Gericht – bereinigt. Die Häufigkeit von Gewaltverbrechen, Mord und Totschlag nimmt im statistischen Mittel tendenziell ab.
Unklare Vergangenheit
Darin sieht der Autor den Beweis, dass die Menschheit in moralischer Hinsicht immer »besser« wird. Für seine historische Zuversicht führt er eine Fülle von Fakten ins Treffen; viele sind überzeugend, nicht alle unumstritten. So beruft Shermer sich auf das Buch »Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit« des amerikanischen Evolutionspsychologen Steven Pinker. Dieser behauptet einen generellen Rückgang der Gewalt während der Menschheitsgeschichte, ausgehend von enorm hoch eingeschätzten Tötungsraten in archaischen Jäger- und Sammlerkulturen gegenüber einer vermeintlich wenig kriegerischen Gegenwart. Doch die archäologischen Funde lassen im Hinblick etwa auf die Steinzeit auch viel weniger gewaltsame Deutungen zu, und in der Gegenwart herrscht zwar zwischen den Industrieländern prekärer Friede, doch in ärmeren Weltregionen toben zahlreiche blutige Konflikte.
Immerhin, zumindest für den zivilisatorischen Fortschritt der Neuzeit in den Industrieländern kann Shermer positive Indizien anführen. Doch was ist mit den technischen Massenmorden im 20. Jahrhundert? Bei deren Einschätzung wirkt vermutlich Shermers US-amerikanische Prägung mit: Die USA haben in den Weltkriegen keine militärische oder moralische Verwüstung des eigenen Landes erdulden müssen, sondern ausschließlich auf fremdem Boden – wenn auch unter erheblichen Verlusten – die aggressiven Mächte Deutschland und Japan niedergerungen.
Überhaupt wirkt der Autor in mancher Hinsicht sehr »amerikanisch«. In seiner Jugend hing er einer evangelikalen Sekte an und vertrat radikal libertäre Positionen, das heißt, er lehnte jegliche Einmischung des Staates ins Wirtschaftsleben vollkommen ab. Heute gibt er die Zeitschrift »Skeptic« heraus und argumentiert in seiner Kolumne für die Zeitschrift »Scientific American« aufklärerisch und antireligiös. Ein Kapitel im vorliegenden Buch trägt den Titel »Warum Religion keine Quelle der Moral ist«.
In den USA gilt Michael Shermer damit wohl als ein typischer »Liberal«, womit dort jemand gemeint ist, den wir hierzulande als eher links einstufen würden. Sein Buch liefert eine Fülle interessanter Fakten zum Wandel moralischer Einstellungen und zur Rolle der Gewalt im Lauf der Moderne. Zu der verlässlich edierten und gut lesbar übersetzten deutschen Ausgabe ist nur kritisch anzumerken, dass mehrere der in den Anmerkungen angegebenen Links nicht mehr funktionieren.
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