Verbinden durch Trennen
»Rein oder raus!« forderte die Mutter von Marianne Gronemeyer, wenn diese als Kind auf der Schwelle der Wohnungstüre verharrte: eine frühe Grenzerfahrung. Gronemeyer, erfolgreiche Autorin und emeritierte Erziehungswissenschaftlerin, schildert die Begebenheit in ihrem neuen Werk. Sie schreibt darin, Grenzen gebe es nicht nur zwischen Staaten, vielmehr begegne man ihnen überall. Manche würden sie gern abschaffen, aber selbst Kinder spürten ihren Sinn: Die Tür als Grenze sichert die gemütliche Wohnung vor dem wilden Draußen. Klar, beides hat seine Vorteile, aber nur deshalb, weil es zwischen beiden eine Schranke gibt.
Daher, so Gronemeyer, seien Grenzen nötig. Nur durch sie erhalten sich beispielsweise kulturelle Eigenarten, nicht nur zwischen Staaten oder religiös geprägten Kulturen. Die Autorin, die jahrelang im Aufsichtsrat von Greenpeace Deutschland saß, will Grenzen nicht einreißen. Sie betrachtet mit Skepsis auch die Grenzöffnung 2015, die es hunderttausenden von Flüchtlingen und Migranten erlaubte, legal in die Bundesrepublik einzureisen.
Schwerlich hat Gronemeyer dabei Angst vor Überfremdung. Denn man brauche ja das Fremde, um sich selbst abzugrenzen, wie sie selbst betont. Das gelte sogar für jene, die zur Willkommenskultur beigetragen und dadurch verhindert hätten, dass die überforderte Bürokratie vollends ins Chaos abglitt.
Grenzen werden heute im Dienst des globalisierten Kapitalismus aufgehoben. Denn durch Unternehmensverlagerung und Abwanderung von Arbeitsplätzen, durch verlockende Konsum-Angebote und die Verheißung individueller Selbstentfaltung bewegt er Menschen weltweit dazu, ihre Heimat zu verlassen und woanders hin zu gehen.
Bergdorf und globalisierte Kultur
Das betrifft längst nicht nur Menschen aus fernen Ländern und Kulturen. Als Gronemeyer österreichische Bergbauern in ihrem Dorf besuchte und die halbstündliche Busanbindung lobte, erhielt sie von diesen zur Antwort: »Zu durchlässig!« Denn die gute Anbindung animiere vor allem junge Leute zum Abwandern. Aber könnte sie nicht ebenso ermöglichen, zur Arbeit zu pendeln? Freilich würde dadurch die globalisierte Kultur ins Bergdorf eindringen und damit seine Eigenheit zerstören – ein schwer auflösbarer Konflikt.
Gronemeyer beruft sich auf Ivan Illich, der in den 1970er Jahren die Schule, den Verkehr und die Medizin abschaffen wollte. Doch während Illich mit dem Industrialismus den Niedergang der Menschlichkeit verband, fordert Gronemeyer eine Abkehr von der grenzenlosen Globalisierung, weil diese kulturelle Unterschiede einebne, den Planeten plündere und die Gefahr ökonomischer Zusammenbrüche und Umweltkatastrophen berge. Wie das anders als im Rahmen eines erstarkten Nationalstaates geschehen soll, darüber äußert sich die Autorin so wenig, wie sie auf Grenzen innnerhalb der EU eingeht. Dass die EU Grenzen aufheben will, müsste ihr eigentlich ein Dorn im Auge sein.
Dass die Autorin dabei auf Separieren setzt, lässt sich ihr insofern nicht vorwerfen, da sie betont, Grenzen seien keine unüberwindlichen Mauern, sondern durch ihre Durchlässigkeit gekennzeichnet – wie die Schwelle jener elterlichen Wohnungstür. So wie Grenzen voneinander trennen und damit die jeweiligen Eigenarten bewahren, so lebe jede Landesgrenze von dem sie passierenden Verkehr, der wiederum verbinde.
Als radikale Kulturkritikerin pendelt Gronemeyer zwischen zivilgesellschaftlichen, »grünen«, »traditionellen« wie »rechten« Argumenten hin und her. Im Detail kann man ihr häufig zustimmen. Doch als Ganzes überzeugt das Buch nur bedingt.
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