Geschichte der Indianer
Es fällt schwer, die Geschichte der Indianer nicht als eine Folge von Betrug, Diskriminierung und gewaltsamer Vertreibung durch die Euroamerikaner zu betrachten – auch nach der Lektüre dieser aktuellen, informationsreichen und komprimierten Gesamtdarstellung. In mehr als der Hälfte der 13 Kapitel spielen Auseinandersetzungen zwischen Indigenen und den aus Europa stammenden Einwanderern und ihren Nachfolgegenerationen – in der Regel mit negativen Konsequenzen für die Indianer – eine gewichtige Rolle. Trotzdem gelingt Heike Bungert durch ihre sachliche und wissenschaftliche Herangehensweise eine vielschichtige Betrachtung.
Kennenlernen und kultureller Austausch
Die Historikerin von der Universität Münster und Expertin für nordamerikanische Geschichte macht es sich zur Aufgabe, mit den Indianern »keine passiven Opfer der Euroamerikaner oder Objekte« darzustellen, sondern ihre Geschichte »als Interaktion verschiedener indianischer und euroamerikanischer Kulturen mit daraus resultierender Transformation aller Beteiligten« zu beschreiben.
Kenntnisreich und souverän leitet die Autorin durch das enge Geflecht hunderter indianischer Völker und Gruppen. Zwei Karten im Anhang des Buchs helfen bei der Zuordnung der Siedlungsgebiete. Sie verzichtet auf Legenden und Pathos und ordnet prominente Indianer – wie Sitting Bull, Crazy Horse oder Pocahontas – in die historischen Gesamtzusammenhänge ein, anstatt sie besonders herauszuheben.
Bungert schreibt aus einer neutralen Perspektive heraus und zeigt, dass die ersten Zusammentreffen mit den Europäern nicht nur feindselig waren. Beide Seiten versuchten, Vorteile aus der Begegnung zu ziehen. So gewannen die Franzosen die Indigenen sowohl als wichtige Handelspartner, etwa für Pelze, als auch als Verbündete gegen die Engländer. Dort, wo sich nicht zu viele Europäer auf einmal niederließen, kam es durchaus zum Kennenlernen, Austausch der Kulturen und zu Kooperation. »Euroamerikaner und Indianer, aber auch indigene Gruppen untereinander übernahmen kulturelle Praktiken ihrer Handelspartner, um Verständigung und Überleben zu gewährleisten. So akzeptierten Europäer tagelange Zusammenkünfte mit Reden, Gebeten, Tänzen und gemeinsamem Rauchen der Kalumet-Pfeife und Austausch von Geschenken. Indianische Gruppen passten Europäer in ihr Verwandtschaftssystem ein und bezeichneten den französischen Gouverneur beispielsweise als ›Vater‹.«
Häufig suchten Indianergruppen auf diese Weise Verbündete gegen ansässige Konkurrenten. Das zeitweilige Einvernehmen, das vor allem auf die zahlenmäßige Überlegenheit der Indigenen zurückzuführen ist, hatte mitunter Auswirkungen auf ihre Lebensgewohnheiten. So übernahmen Indianer importierte Gegenstände und Praktiken oder zogen in die Nähe euroamerikanischer Siedlungen. Die Weißen dagegen verließen sich etwa auf die Ortskenntnis und Versorgungsleistungen ihrer Nachbarn.
Ein friedliches Zusammenleben war häufig allerdings nur von kurzer Dauer. Bereits früh drängten insbesondere die Engländer einzelne indigene Gruppen weiter nach Westen. Gleichzeitig beteiligten sich Indianer auf unterschiedlichen Seiten an euroamerikanisch initiierten Konflikten, wie dem Krieg zwischen Engländern und Franzosen oder dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, und traten nicht als indigene Einheit in Erscheinung.
Zeitweilige Bündnisse mit den Eindringlingen konnten ihre Vertreibung jedoch nicht verhindern. Bungert schildert detailliert, wie die Indianer über die folgenden Jahrhunderte hinweg meist vergeblich versuchten, durch Diplomatie, Gewalt sowie Anpassung ihrer Lebensweise die eigenen Siedlungsgebiete und Lebensweisen zu bewahren, und wie sie unter der aufkommenden Entwurzelung litten. »Die psychologischen Folgen für Gruppen, die wie die Winnebagos siebenmal in 30 Jahren migrieren mussten, lassen sich kaum abschätzen«, schreibt die Autorin. Ende des 19. Jahrhunderts lebten nahezu alle Angehörigen der indigenen Bevölkerung in Reservaten.
Besonders informativ – da seltener behandelt – sind die beiden Abschnitte, die den Zeitraum zwischen der Ankunft der Weißen und dem Ende der Indianerkriege 1890 einrahmen. Ab etwa 14 000 v. Chr. gelangten die indianischen Vorfahren vermutlich in mehreren Wellen aus Nordsibirien und dem nordöstlichen Teil Asiens über eine Landzunge nach Nordamerika. Skelettfunde wie die »Buhl Woman« aus Idaho und der »Kennewick Man« aus dem Staat Washington unterstützen diese These.
Erste landwirtschaftlich geprägte Kulturen wie die Hohokam, die zwischen dem 6. und 14. Jahrhundert im Südwesten Mais, Kürbisse und Baumwolle anbauten und dabei viel Aufwand für die Bewässerung ihrer Felder betrieben, siedelten sesshaft in größeren Dörfern. Mississippi-Kulturen im Südosten brachten sogar so genannte Chiefdoms hervor, wie Cahokia in der Nähe des heutigen St. Louis. In den stadtähnlichen Verwaltungseinheiten sowie wirtschaftlichen und religiösen Zentren lebten tausende Menschen zusammen.
In einem Kapitel gibt Bungert zudem spannende Einblicke in die vielfältigen Gesellschaftsstrukturen und die religiösen Vorstellungen der Indigenen kurz vor der Ankunft der Europäer. So verweist sie beispielsweise auf die weit verbreitete Matrilinearität, also die Ausrichtung der Abstammung einer Familie auf die Ehefrau.
In den abschließenden Kapiteln beschreibt die Autorin ein langes Jahrhundert bis in die Gegenwart, in dem sich die Indianer gegen Diskriminierung, assimilatorische Initiativen und kulturelle Auslöschung zur Wehr setzten und unter anderem durch panindianische Bürgerrechtsbewegungen Souveränität und einen Platz in der amerikanischen Gesellschaft für ihre Nationen erkämpften. Ihre Lebensumstände sind allerdings bis heute von einer schwierigen Beziehung zu den USA und damit einhergehender Benachteiligung geprägt – Armut, Arbeitslosigkeit und Unterversorgung kennzeichnen das Leben in vielen Reservaten.
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