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Die gefährlichsten Tiere der Welt?

Stechmücken haben die Menschheitsgeschichte nachhaltig geprägt – davon ist der Historiker Timothy C. Winegard überzeugt.

»Alle, die dieses Buch lesen, haben eines gemeinsam: Sie hassen Stechmücken«, behauptet der kanadische Historiker Timothy Winegard in der Einleitung zu seinem insgesamt fünften Buch. Der Autor selbst schwankt im Hinblick auf diese Insekten zwischen »tief empfundener Abscheu und aufrichtigem Respekt und Bewunderung«. Warum widmet er einen rund 600-seitigen Band den so unscheinbaren Tieren? Eine Antwort liefert bereits der erste Satz, der sich fast mantraähnlich durch das ganze Werk zieht: »Wir befinden uns im Krieg mit der Mücke.« Sie sei unser ärgster Feind und habe mehr Menschen auf dem Gewissen als jede andere Ursache. Diese Aussage wirkt zunächst überraschend. Winegard präzisiert jedoch, dass nicht das Insekt selbst, sondern die von ihm übertragenen Krankheiten beinahe die Hälfte aller Menschen getötet hätten, die je gelebt haben.

Hinkende These

Der Historiker, der an der Colorado Mesa University lehrt, hängt quasi die gesamte Menschheitsgeschichte an der Mücke auf – eine interessante These, die jedoch an einigen Stellen hinkt. Ohne Zweifel spielen Krankheiten eine zentrale Rolle in der Menschheitsgeschichte, wie sich aktuell etwa an der Covid-Pandemie zeigt. Der für sie verantwortliche Erreger wird allerdings genauso wenig von Mücken übertragen wie HIV oder Pestkeime. Eher am Rand erwähnt Winegard, der schwarze Tod habe im 14. Jahrhundert weltweit zwischen 150 und 200 Millionen Menschen das Leben gekostet. Es dauerte etwa 200 Jahre, bis die Weltbevölkerung wieder ihre vorherige Zahl erreichte. Auch andere Probleme, etwa die hohe Kindersterblichkeit, hatten damals großen Einfluss auf die Bevölkerungszahlen.

Winegard kündigt an, seine Leser mitzunehmen auf eine »chronologische, stechwütige Reise durch die miteinander verwobene, gemeinsame Geschichte von Mensch und Mücke«. Sie führt vom antiken Griechenland über das Römische Reich und den Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Erfolg und Scheitern früherer Imperien, behauptet der Historiker, hingen zum großen Teil von Stechmücken ab. Zudem hätten die Tiere den Ausgang zahlreicher Kriege, Kreuz- und Feldzüge beeinflusst. Ohne sie wäre auch die Besiedlung Amerikas anders verlaufen. Ob dem so ist, lässt sich schwer ermitteln. Immerhin finden sich in unserem Genom Indizien, die dafür sprechen. So tragen Menschen afrikanischer oder südeuropäischer Abstammung häufig Mutationen wie jene, die die Sichelzellenanämie verursachen und zugleich vor Malaria schützen. Wir befinden uns – um es in Winegards Worten auszudrücken – in einem ständigen Wettrüsten mit der Mücke.

Der Autor greift häufig auf Sprachbilder mit militärischem Hintergrund zurück. Das mag damit zusammenhängen, dass er neun Jahre lang im Militär gedient hat. So bezeichnet er Mücken als »biologische Massenvernichtungswaffen« oder spricht von Generälen statt von Mückenarten. Um Spannung zu erzeugen, setzt er häufig Superlative ein. Manchmal wirkt sein Schreibstil fast atemlos, die Sätze sind oft sehr lang.

Seine sorgfältig recherchierten Zahlen und Fakten untermalt Winegard mit Zitaten von Fachleuten und Zeitgenossen. Er nimmt Bezug auf antike Schriften, bekannte Bücher und Filme und streut auch Anekdoten aus der eigenen Familiengeschichte ein. Einige Kupferstiche und alte Fotografien zieren das Buch, insgesamt ist es aber spärlich bebildert. Ein Zeitstrahl oder ein paar kompakte Infokästen wären beispielsweise schön gewesen.

Mit seinen zirka 600 Seiten ist das Werk ein ziemlicher Wälzer. Zwar lassen sich die insgesamt 19 Kapitel je auch einzeln lesen; eine feinere Untergliederung hätte jedoch gut getan. Immerhin findet sich am Ende jedes Kapitels eine kurze Zusammenfassung sowie ein Ausblick auf kommende Ereignisse. An einigen Stellen geht der Autor tief ins Detail, etwa, wenn es um die Siedlungsgeschichte Nordamerikas geht. Man merkt, dass hier sein Hauptforschungsgebiet liegt.

Zahlreiche Fußnoten liefern interessante Zusatzinformationen – sofern man Lust hat, dafür bis ans Ende des Buchs zu blättern. Dort erfährt man beispielsweise, woher die »Hundstage« ihren Namen haben: Der griechische Arzt Hippokrates verband die tödliche Malariasaison im Sommer mit dem Auftreten Sirius’, des Hundssterns am Nachthimmel, und nannte sie darum die »Hundstage des Sommers«. Die Leser erfahren auch, dass Dinosaurier offenbar Malaria bekommen konnten und Gin Tonic ursprünglich zur Malaria-Vorbeugung diente. Am Ende des Buchs findet sich zudem ein ausführliches Literaturverzeichnis. Darin sind zwar nicht – wie in der amerikanischen Originalausgabe – alle Quellen aufgelistet, aber interessierte Leser finden jede Menge Tipps zum Schmökern.

Wiederholt fällt auf, dass Winegard kein Mediziner oder Biologe ist: Er setzt Fachbegriffe mitunter unpräzise ein, äußert beispielsweise, Viren seien keine Zellen, sondern eine »Ansammlung von Molekülen und genetischen Verbindungen«. Auch formuliert er, die Malariaerreger würden im Lauf ihres Lebenszyklus mutieren – tatsächlich wechseln sie, etwa durch Reifung und Differenzierung, zwischen verschiedenen Zuständen. In diesem Kapitel schreibt der Autor selbst: »Ich bin weder Entmologe noch Malariologe oder Tropenmediziner. (…) Die komplizierten wissenschaftlichen Erklärungen der Stechmücke und ihrer Pathogene überlasse ich daher besser den Experten.« Seine biologisch interessierten Leser lässt er damit etwas frustiert zurück.

Zum Schluss geht der Historiker auf die aktuelle Situation ein: »Heute, wo Krankheitsüberträger den Globus in Rekordzahl und -zeit umrunden und unsere Spezies die ökologische Kapazität unseres Planeten überschreitet, scheint sich unsere (…) Konfrontation mit der Mücke weiter zuzuspitzen.« Er fasst den Stand der Forschung zusammen und wirft kritische Fragen zum Thema Gentechnik auf. Zwar hält er es für möglich, dass man Stechmücken mittels gentechnischer Methoden künftig so manipulieren kann, dass sie keine Parasiten mehr übertragen können. Doch war unser Schicksal seiner Meinung nach stets mit dem der Mücke verwoben. »Es wäre naiv zu glauben, wir könnten uns nun mühelos und ohne jegliche Konsequenzen voneinander lösen«, schließt er.

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