Mit den Sowjets zum Mond
Umfassende deutschsprachige Fachliteratur zur sowjetischen Mondrakete N1 muss man mit der Lupe suchen. Mir ist eigentlich nur die Broschüre "N1 – Herkules" von Olaf Przybilski und Stefan Wotzlaw in Erinnerung, die 1996 in der Schriftenreihe der Deutschen Raumfahrtausstellung in Morgenröthe-Rautenkranz erschien. 20 Jahre später hat sich nun Eugen Reichl, Publizist und ausgewiesener Kenner vor allem der US-Raumfahrt, des Themas angenommen.
Es überrascht einigermaßen, dass Reichl sich auf dieses ihm doch recht fremde Terrain wagt. Denn das Feld unterlag zu Sowjetzeiten strengster Geheimhaltung und ist selbst im heutigen Russland bei Weitem noch nicht abschließend "beackert". Die Quellenlage muss man als dünn bezeichnen; sie wird vor allem von den Memoiren Boris Tschertoks dominiert, Stellvertreter des legendären Chefkonstrukteurs und Vaters der N1, Sergej Koroljow.
Tschertok schilderte im vierten und letzten Band von "Raketen und Menschen" unter dem Titel "Der Wettlauf um den Mond" die Geschichte um die N1, natürlich überwiegend aus seiner Sicht. Nach dem viel zu frühen Tod Koroljows im Januar 1966 setzte Tschertok die Arbeit an der Rakete unter dessen Nachfolger Wassili Mischin bis zum bitteren Ende fort – das heißt, bis zur Einstellung des Programms im Jahr 1974, nachdem alle vier Testflüge der N1 zwischen Februar 1969 und November 1972 gescheitert waren. Tschertok gehörte denn auch zu einer hochrangigen Gruppe von Konstrukteuren, die 1974 in einem Brief an das Zentralkomitee der KPdSU die Ablösung Mischins forderten und durchsetzten.
Als die Sowjetmacht an Personalquerelen scheiterte
Damit wurde für den Ingenieur Walentin Gluschko der Weg frei, Koroljows Aufgaben zu übernehmen. Gluschko war – wegen einer vermeintlichen Denunziation während der Stalinzeit – mit Koroljow in Intimfeindschaft verbunden gewesen. Dies und das ebenfalls schlechte Verhältnis zum Lenkwaffen- und Raketenkonstrukteur Wladimir Tschelomei hatten dazu geführt, dass sich die Sowjetunion heillos verzettelte und im Wettrennen zum Mond den USA so eklatant unterlag. Mischin sprach denn auch zu Recht immer davon, dass dieser Wettlauf, der im Westen so hochgejubelt wurde, eigentlich gar nicht stattgefunden habe. Die Auseinandersetzung habe vielmehr zwischen Koroljow, Gluschko und Tschelomei getobt und wurde mit allen Mitteln ausgetragen. Reichl belegt das in seinem locker geschriebenen Buch anhand vieler Fakten vor allem auf Basis der Tschertok-Memoiren.
Während der Lektüre bekommt man ein Bild des russischen Mondprogramms, welches erst in den 1980er Jahren öffentlich wurde, auf dem Stand von 1999. In einer sehr kurzen Bibliografie, die leider nicht im Buch, sondern nur umständlich im Internet zu finden ist, kann man nachlesen, dass Reichl sich dabei nicht auf Originalquellen stützte, sondern den Umweg über die Englischübersetzungen der Nasa nehmen musste – und über die Bücher namhafter Raumfahrtautoren wie Asif A. Siddiqi, Brian Harvey und Gordon Hooper.
Diese Sprachbarriere erweist sich in einer Zeit, da russische Medien und Zeitzeugen mit immer neuen Enthüllungen aufwarten, als ärgerliches Hindernis. Umso mehr für einen Autor wie Reichl, der sonst in seinen Büchern immer höchst aktuell ist. So merkt man seinem Buch an, dass es am Englischen "klebt". Deutlich wird das an der Transkription russischer Ortsbezeichnungen, Namen und Abkürzungen, sowie an einigen unübersehbaren Übersetzungsfehlern. Besonders peinlich ist es, wenn man offensichtlich die ersten drei Buchstaben des russischen Alphabets nicht kennt und so bei den technischen Bezeichnungen, die streckenweise sehr gehäuft auftreten, auf A und B das V statt des W folgen lässt. Überdies weist der Text ungewöhnlich viele Rechtschreib- und Interpunktionsfehler auf.
Zieländerung vom Mars zum Mond
Vermisst habe ich insbesondere einen Hinweis auf Koroljows Marsprojekt. Es musste 1964 in ein Mondprojekt umgewandelt werden, da die Sowjetführung, die anfangs keine Ambitionen auf bemannte Mondmissionen hegte, beschloss, den Amerikanern nun doch, wenn auch klammheimlich, Paroli zu bieten. Der sowjetische Premier Nikita Chruschtschow sagte damals: "Wir können den Mond nicht den Amis überlassen." Dieser Sinneswandel war ein wesentlicher Grund, weshalb Koroljow seine N1 komplett umbauen musste – sie sollte jetzt nämlich direkt zum Erdtrabanten starten, statt die Bauteile wie bei der anvisierten Marsmission erst auf eine erdnahe Umlaufbahn zu bringen.
Doch diese Lücke kann Reichl ja in seinem nächsten Buch "Die Herausforderung – Moskaus Antwort an Apollo" füllen, das er für kommendes Frühjahr angekündigt hat. Vielleicht kann er dann auch schon aus dem neuen Buch "Sapiski raketschika" (zu Deutsch etwa: Aufzeichnungen eines Raketenmanns) schöpfen, das russische Raumfahrtjournalisten zum Jahresende herausbringen und in dem es um Wassili Mischin geht. Darin werden die wichtigsten Aussagen des Koroljow-Nachfolgers auch zu diesem Thema zusammengefasst; außerdem kommen viele seiner ehemaligen Mitarbeiter, Freunde und Widersacher zu Wort.
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