»Eine Arbeiterin«: Den Entmündigten eine Stimme geben
Pflegebedürftige alte Menschen haben keine Zukunft mehr, die sie selbst gestalten. Sie haben keine Stimme mehr, die sie in der Öffentlichkeit geltend machen könnten. Vielmehr sind sie auf Menschen angewiesen, die für sie die Stimme erheben. Das ist der Sinn dieses Buchs von Didier Eribon, Journalist und Erfolgsautor, bekannt vor allem durch »Rückkehr nach Reims«.
Denn in vielen Pflegeheimen werden alte Menschen kontrolliert, überwacht und entmündigt. Sie verlieren oft nicht nur ihre Selbstständigkeit, sondern auch ihre Freiheit und ihre Menschenwürde. In diesen Fällen handelt es sich für Eribon »um strukturelle Misshandlung, um institutionelle Gewalt. Und sie ist allgegenwärtig.« Daher fällt er das Gesamturteil: »Man kann es gar nicht oft und laut genug sagen: Das System ist unmoralisch.«
Das liegt daran, dass in Frankreich im Gesundheitswesen seit Jahrzehnten immer stärker gespart wird. In öffentlichen Pflegeeinrichtungen fehlt es daher an Personal, so dass die Pflegebedürftigen häufig nur notdürftig versorgt werden. Freilich soll es in privaten Einrichtungen nicht viel besser aussehen. Eribons Mutter musste ein solches Schicksal erleiden. Sie wehrte sich gegen die Vernachlässigung, rief ständig bei ihren Söhnen an, die darauf kaum reagierten, weil es sich nicht ändern ließ, wie ihnen die behandelnde Ärztin erklärte. Trotz solcher Verhältnisse interessiert sich kaum jemand für das Thema. Simone de Beauvoirs Buch »Das Alter« aus dem Jahr 1970 kennt kaum jemand. Und die meisten Philosophen interessieren sich überhaupt nicht für das Alter. Sartres Ideen von Freiheit und Verantwortung etwa berücksichtigen die schwachen Alten nicht.
Essay, Biografie und Autobiografie
Deshalb möchte Eribon für die entmündigten und vom Diskurs ausgeschlossenen Alten seine Stimme erheben, aber nicht nur für sie: »Denn zweifellos gilt dasselbe in unterschiedlichem Maße auch für Arbeitslose und prekär Beschäftigte, für alle, die befristet oder in Teilzeit arbeiten müssen, deren berufliche Zukunft ungewiss ist.«
»Eine Arbeiterin« ist einerseits ein Essay, der zahlreiche Philosophien streift. Andererseits wirft Eribon dabei einen soziologischen Blick auf die Entwicklung der Arbeiterklasse, die sich in der Biografie seiner Mutter spiegelt. Sie kämpft als Arbeiterin in der Fabrik mit den Gewerkschaften. Eribons Vater, ein Hilfsarbeiter, versteht sich ebenfalls als »links«. Im fortgeschrittenen Alter jedoch macht die Mutter ausländerfeindliche und rassistische Bemerkungen; immer mehr Arbeiter wählen seit Langem in Frankreich die Rechte.
Immerhin hat sie nach dem Tod ihres Mannes, der sie zeitlebens misshandelte, mit über 80 Jahren noch einen jüngeren, verheirateten Lover, den Eribon aber als Faschisten bezeichnet. Vielleicht brach seine Mutter zusammen, als dieser sie verließ. So wundert sich Eribon, »dass Liebeskummer nicht auf der Liste der Risikofaktoren auftaucht, die zu einem Verlust des Lebenswillens führen oder ihn beschleunigen können«.
Eribon schildert das Leben seiner Mutter, skizziert eine Familiengeschichte in einer Weise, die stark autobiografische Züge trägt. Dem Sohn gelingt der soziale Aufstieg nur dadurch, dass er lernt, die Sprache der Eliten zu sprechen. Seinen eigenen Dialekt muss er dazu hinter sich lassen. Das entfremdet ihn von seinen Eltern und Brüdern. Zudem lebt er homosexuell. Obwohl Eribon Familie ablehnt und an deren Stelle die Freundschaft setzt, mag er sich nicht ganz von seiner Herkunft aus einer Arbeiterfamilie distanzieren, als ehemaliger radikaler Linker möchte er seine Herkunftsklasse nicht verraten.
Diese Verbindung von Essay und Biografie macht das Buch lebendig, spannend und somit lesenswert, auch wenn es stellenweise mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger daherkommt und die Schlechtigkeit der Welt dramatisiert.
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