Direkt zum Inhalt

Der Mensch als Auslaufmodell

"Bei Anbruch des dritten Jahrtausends erwacht die Menschheit, streckt ihre Glieder und reibt sich die Augen. Die Reste eines schrecklichen Albtraums schwirren ihr noch im Kopf herum. (...) Dann macht die Menschheit sich einen Kaffee und schlägt den Kalender auf. 'Mal sehen, was heute auf der Agenda steht.'"

Mit diesen Sätzen beginnt Yuval Noah Harari, Historiker an der Hebräischen Universität von Jerusalem, seine Zukunftsvision "Homo Deus", in der er die Geschichte des Homo sapiens angesichts neuer Technologien weiterdenkt. Wonach wird der Mensch streben, wenn er Einschränkungen wie Hunger, Krankheit und Tod überwunden hat? Welche Ideologien werden die vorherrschenden Weltanschauungen ablösen? Und welche Fragen wird das aufwerfen?

Den Tod besiegen

Harari geht von der Annahme aus, das nächste Projekt der Menschheit (genauer: einiger Eliten) werde der Griff nach der Unsterblichkeit sein. Dies ist für ihn eine logische Konsequenz des Zeitgeists. Dank Fortschritten in der Biotechnologie und künstlicher Intelligenz könnte der Homo sapiens zum gottähnlichen Homo deus avancieren. Dieser technologieverstärkte Mensch werde sich so sehr vom evolutionär auf der Strecke gebliebenen H. sapiens unterscheiden, dass es schwerfalle, sich ein Zusammenleben beider vorzustellen. Ob der Schritt hin zum gottähnlichen Menschen gelingen wird, lässt Harari offen: Er ist nicht unausweichlich, sondern ein Konjunktiv. Der Wunsch, ihn zu gehen, ist jedoch ganz real.

Es sind gewagte Behauptungen, die der Autor aufstellt, was aber gerade den Reiz des Werks ausmacht. Die große Stärke des Buchs liegt darin, dass es globalgeschichtliche Darstellungen mit einer detaillierten "Geschichte von Morgen" verknüpft.

Im ersten Teil untersucht Harari den Ist-Zustand der Menschheit; er geht darauf ein, wie sie die Welt erobert hat; und entwirft in groben Zügen ihre mögliche künftige Agenda. Der zweite Teil rückt Sinngebungsprozesse in den Fokus: Wie verleiht der Mensch dieser "seiner" Welt Bedeutung? Im letzten Teil beschreibt er, wie H. sapiens die derzeitigen Weltanschauungen hinter sich lässt und nach reiner Informations- und Wissensexistenz strebt – und wo dort die Gefahren lauern. Möglicherweise, mutmaßt der Autor, wird der Mensch sich dabei mittels Algorithmen und Biotechnologie im Datenstrom auflösen.

Ausgeprägtes Selbstbewusstsein

Harari zeichnet weder eine naiv-optimistische Utopie noch eine wissenschaftsskeptische Dystopie. Vielmehr zeigt er nüchtern auf, wie menschliches Zusammenleben funktioniert, wie Ideologien und Übereinkünfte unser Weltbild und Handeln prägen und vor welchem Hintergrund wissenschaftliche Durchbrüche möglich sind. Das Werk ist weniger teleologische Zukunftsspekulation als vielmehr historische Rückschau, kluge Gegenwartsbeobachtung und Tour de Force durch die Popkultur – wissenschaftsgeschichtlich, kulturgeschichtlich, politisch und sozialgeschichtlich durchweg fundiert.

Der Autor schreibt unaufgeregt, lässig und bewegt sich souverän durch verschiedenste Fachdisziplinen. Stilistisch versiert führt er die Leser durch seine Argumentation. Mitunter erlaubt er sich Ausschweifungen und Gedankenspiele, die oft unterhaltsam, manchmal gar humorvoll, immer aber bereichernd sind. Allerdings zeigt er sich wenig selbstkritisch: Seine Erzählung sieht keine Widerworte vor. Dass es dabei zu Vereinfachungen kommt, ist unvermeidlich. Sätze wie "Im Jahr 2016 wird die Welt vom liberalen Pakt aus Individualismus, Menschenrechten, Demokratie und freiem Markt beherrscht" stellt Harari einfach so hin. Der Siegeszug des technologischen Fortschritts ist in seinem Szenario nicht aufzuhalten. Völkisch-nationale oder religiös-extremistische Strömungen sind für ihn bloß retardierende Momente, ein letztes Aufbäumen der Tradition. Antworten auf die Fragen des 21. Jahrhunderts, meint er, vermögen sie nicht zu geben.

Wer sich mit dem sehr selbstbewussten Stil des Autors arrangieren kann, wird das Werk kurzweilig, erhellend und unbedingt diskussionswürdig finden.

Kennen Sie schon …

Spektrum der Wissenschaft – 50 Jahre Lucy

Vor 50 Jahren wurde in Äthiopien ein hervorragend erhaltenes Teilskelett von Australopithecus afarensis entdeckt. Auch ein halbes Jahrhundert nach seiner Entdeckung gilt das 3,2 Millionen Jahre alte Fossil immer noch als Urmutter aller Menschen. Doch »Lucy« hat Konkurrenz bekommen. Außerdem im Heft: Ein neues Quantenparadoxon löst Kontroversen aus. Der Drehimpuls eines Teilchens scheint sich von diesem zu lösen und sich körperlos zu bewegen – aber ist das wirklich so? Nanokapseln, wie jene der RNA-Impfstoffe, sollen die Medizin revolutionieren. Doch immer wieder tritt durch die Nanomedikamente eine gefährliche Immunreaktion auf. Was steckt dahinter? Nördlich von Berlin untersucht ein Forschungsprojekt, wie sich trockengelegte Moore wiedervernässen lassen. Schließlich stellen wir in der Rubrik »Forschung Aktuell« die Nobelpreisträger für Physik, Chemie und Medizin oder Physiologie sowie deren bahnbrechende wissenschaftliche Beiträge vor.

Spektrum - Die Woche – Wie Computer das Lernen lernen

Die Nobelpreise in Medizin oder Physiologie, Physik und Chemie sind vergeben! Erfahren Sie, wie bahnbrechende Forschungen zu microRNA, neuronalen Netzen und Proteinen die Welt verändern.

Spektrum - Die Woche – Warum soziale Medien weniger gefährlich sind, als wir denken

Schreiben Sie uns!

2 Beiträge anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.