Die vielen Facetten des Impfens
Eltern wollen in der Regel das Beste für ihr Kind. Das gilt auch für Eula Biss, die an der Northwestern University (Illinois, USA) das Schreiben von Sachliteratur lehrt. Sie hat einen kleinen Sohn und sieht sich seit dessen Geburt täglich mit Gefahren konfrontiert, vor denen sie ihn schützen möchte: Pestizide in der Nahrung, Schadstoffe in Babymatratzen, Krankheitserreger in der Luft und viele weitere.
Speziell beim Thema Impfen sieht sich die Autorin in einer Zwickmühle. Einerseits hat sie die Macht, hier Entscheidungen zu treffen, andererseits auch die Verantwortung dafür. Angesichts zahlloser Risikohinweise, Informationen und Ratschläge fühlt sie sich überfordert und hilflos. Kann sie ihrem Kind mit einer Impfung schwere Krankheiten ersparen? Oder wird die Spritze das Baby erst krank machen? Riskiert sie schwere Nebenwirkungen, um eine Krankheit abzuwenden, die ihr Sohn vielleicht nie bekommen hätte?
Komplexes Ursachengeflecht
Im vorliegenden Buch geht die Autorin dieser Verunsicherung auf den Grund. Dabei bezieht sie wissenschaftliche Studien zu Impfungen ein und befasst sich mit Medizingeschichte, Soziologie sowie Literaturwerken. Neben eigenen Erfahrungen und Gedanken lässt sie Gespräche mit anderen Eltern, Kollegen und Fachleuten einfließen. Obwohl sich Biss umfangreiches Fachwissen angeeignet hat, wird sie nie belehrend. Sie bemüht sich, die Positionen von Impfskeptikern nachzuvollziehen und lotet deren Motive aus.
Die Ursachen für Impfverweigerung liegen laut Biss nicht nur in der Angst vor Nebenwirkungen. Feministische Ideale wie "Mein Körper gehört mir" spielten ebenso eine Rolle wie Gedanken der Occupy-Bewegung, die einer grundlegenden Skepsis gegenüber staatlichen Einrichtungen und großen Konzernen entspringen. Zudem weist sie auf literarische Gleichnisse hin, die sich auf Impfungen übertragen lassen. So versucht die Mutter des griechischen Helden Achill, ihren Sohn unverwundbar zu machen, indem sie ihn in den Unterweltsfluss Styx taucht. Die riskante Aktion bleibt erfolglos, die Ferse verletzlich. Vollkommene Immunität, das lehre die Geschichte, sei illusorisch.
Auf diese Weise versucht die Autorin das kulturelle, historische und wissenschaftliche Geflecht rund um das Thema Impfen zu entwirren. Fronten zwischen "natürlich" und "unnatürlich" oder zwischen "rational" und "gefühlsbetont" möchte sie auflösen. Eine Impfung sei nicht an sich unnatürlich, andersherum sei das Vertrauen in Impfungen nicht ausschließlich rational. Vor zwei Jahrhunderten hätten Menschen aus Todesangst vor den Pocken heraus der kontraintuitiven Behandlung zugestimmt, sich den Eiter einer kranken Kuh in eine Wunde streichen zu lassen, um immun zu werden. Im heutigen Alltag hingegen wiegten wir uns überwiegend in Sicherheit – weshalb manchen die Gefahr, ihr Kind entwickle infolge einer Impfung Autismus, irrtümlich realer erscheine als das Risiko schwerer Krankheitsverläufe.
Geschützt durch andere
Das Buch regt dazu an, das eigene Verständnis von Krankheit und Gesundheit zu hinterfragen. Ist ein Kranker selbst schuld an seiner Krankheit? Hätte er sich schützen müssen, durch einen gesünderen Lebensstil oder eine Impfung? Was verstehen wir unter einem Risiko? Schwingt in der Angst vor Krankheit auch die vor Fremdheit mit? Mit ihren wissenschaftlichen, kulturellen und geschichtlichen Perspektiven gibt Biss viele Denkanstöße. Ihr Buch kann den Horizont von Impfgegnern wie -befürwortern erweitern.
Wichtig ist der Autorin die Botschaft: Wir sind keineswegs unabhängig von unserer Umwelt. Wer sich impfen lässt, tut das nicht nur für sich, sondern verhindert auch, dass er andere ansteckt. Bei genügend großer Durchimpfung schützt die "Herdenimmunität" auch jene, bei denen eine Immunisierung nicht möglich ist. Impfen dient damit nicht nur der eigenen Gesundheit, sondern ist auch und vor allem ein Akt wahrgenommener Verantwortung.
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