Buchkritik zu »Kalte Herzen«
Dieses Buch verschaffte mir ein merkwürdiges Wiedersehen mit zwei Denkmustern, die mir in meiner Jugendzeit heftig zu schaffen gemacht haben. Erstens: »Die Jugend von heute ist verdorben, früher war alles besser«, manchmal mit der Steigerung »Unter dem Führer hätte es das aber nicht gegeben«. Zweitens: »Du als Einzelmensch bist hilfloses Opfer anonymer gesellschaftlicher Kräfte, die dich manipulieren, bis du etwas für normal hältst, was du eigentlich nie gewollt hast.«
Mittlerweile haben beide Sprüche für mich ihren Schrecken verloren. Nicht in erster Linie, weil sie widerlegt worden wären, sondern weil sich ihre Bedeutung als begrenzt herausgestellt hat. Das kann schon sein, dass wir als Jugendliche schlechter erzogen waren als unsere Eltern – was immer das heißen mag –; aber mit meinen mittlerweile erwachsenen Altersgenossen habe ich deswegen keine ernsthaften Probleme. Es ist auch richtig, dass die gesellschaftlichen Leitbilder Moden folgen, die mir häufig überhaupt nicht passen. Nur habe ich inzwischen erlebt, dass diese Moden mir persönlich ausreichend Freiheit lassen – auch wenn ich für diese Freiheit gelegentlich bezahlen muss.
Wie kommt es dann, dass Peter Winterhoff-Spurk diese längst erledigt geglaubten Sprüche in meinem Kopf wieder zum Leben erweckt? Wohlgemerkt: Die Sprüche selbst stehen nicht in dem Buch. Der Autor ergeht sich weder in konservativem Weltschmerz noch in vulgärlinken Spekulationen über irgendwelche militärisch-industriellen Finsterlinge, die uns um des schnöden Profits willen einer kollektiven Gehirnwäsche unterziehen. Winterhoff-Spurk, Professor für Psychologie in Saarbrücken, teilt uns zunächst seine und seiner Fachkollegen Beobachtungen zum Thema Medienpsychologie mit.
Den einen Teil dieser Beobachtungen kann man mühelos am eigenen Fernseher nachvollziehen. Die Sendungen werden kurzatmiger, oberflächlicher und immer stärker auf die Inszenierung einer Einzelperson konzentriert. Während ein Politiker 1985 durchschnittlich 92 Sekunden am Stück Zeit hatte, seine Gedanken mitzuteilen, waren es 1998 gerade noch 23 Sekunden. Talkshows, inszenierte Gefühlsaufwallungen wie die »Traumhochzeit«, deren Moderatorin Linda de Mol eine Art Leitfigur des Buchs ist, und Pseudoeinblicke ins Intimleben wie »Big Brother« schießen ins Kraut. Das bleibt zweifellos nicht ohne Wirkung auf den Zuschauer. Noch 1990 pflegte der deutsche Durchschnittsmensch täglich zwei Stunden und fünfzehn Minuten fernzusehen; diese Zeit ist in nur fünfzehn Jahren auf dreieinhalb Stunden angewachsen und liegt damit nur noch eine Stunde unter dem amerikanischen Standard.
Kein Wunder, dass vor allem die Kinder und Jugendlichen ihre Rollenvorbilder in immer größerem Maß aus dem Fernsehen beziehen, selbst hektisch, zappelig und oberflächlich werden und vorzugsweise auf einzelne erregende Events und die Darstellung des eigenen Äußeren abfahren. So weit der zweite Teil der Beobachtungen, die durch sorgfältig durchgeführte soziologische Studien belegt werden. In seiner Interpretation geht Winterhoff-Spurk darüber jedoch noch weit hinaus. Das Fernsehen etabliere einen neuen Sozialcharakter, der sich auch deshalb so stark ausbreite, weil er perfekt auf die Anforderungen der neuen Arbeitswelt passe: Flexibilität, ständig neue Aufgaben und Arbeitsumgebungen, beeindruckende Selbstdarstellung statt Aufbau langfristiger Vertrauensverhältnisse.
Der Autor gibt diesem Charakter einen eigenen Namen: Histrio, von der altrömischen Bezeichnung für einen Schauspieler, Tänzer oder Musiker. Ein ganzes Kapitel widmet er dem Versuch, zwei Galionsfiguren des deutschen Kinos, Marlene Dietrich und Leni Riefenstahl, per posthumer Ferndiagnose den histrionischen Charakter zu attestieren. Durch dieses präzise Zusammenwirken des Fernsehens und der in der Arbeitswelt wirksamen Kräfte steuere unsere Gesellschaft auf einen Zustand hin, in dem der histrionische Charakter dominiere.
»Trübe Aussichten: ein politisch desinteressierter, gesellschaftlich nicht engagierter, an seinen Arbeitgeber emotional nicht gebundener, psychich labiler, egoistischer, vor allem mit seiner Inszenierung beschäftigter und an Events interessierter Single als Bürger der Zukunft.« Indem Winterhoff-Spurk alles zusammenträgt, was für seine These spricht, und die bunte Vielfalt der anderen gesellschaftlichen Strömungen weit gehend ausblendet, erscheint der von ihm beschriebene Trend in der Tat als unausweichliches Schicksal.
Entsprechend trostlos fällt das Schlusskapitel »Was tun?« aus. Außer der realitätsfernen Idee, es könne ja jeder persönlich seinen Fernseher abschaffen, fällt ihm nicht viel ein. Immerhin gibt er zur Belustigung des Lesers zu, dass seine eigene Fernsehlosigkeit weniger einem heroischen Entschluss als einem Versehen zuzuschreiben ist (Kabelanschluss aus Zorn gekündigt und keinen Ersatz beschafft). Was soll man davon halten? An den Fakten ist wenig zu rütteln. Das Thema ist auch alles andere als unbedeutend. Gewisse Dinge waren früher wirklich besser, und anonyme gesellschaftliche Kräfte üben tatsächlich eine erhebliche Macht auf den Einzelnen aus. Es ist dem Autor auch nicht vorzuwerfen, dass er sich auf sein Thema konzentriert.
Den fatalen Eindruck der Unausweichlichkeit, den er damit als Nebenfolge im Kopf des Lesers erzeugt, muss dieser selbst korrigieren. Es gibt genug Ausweichmöglichkeiten; sie bestehen nicht nur im Rückzug ins Private. Auch die vorliegende Zeitschrift lebt bis heute, obwohl sie dem Trend zur Kurzatmigkeit nur hinhaltend und widerwillig Folge leistet. Aber gegen den Trend zu schwimmen erfordert, wie üblich, Fantasie und Mühe. Beides wendet nur auf, wer gewisse Erfolgsaussichten sieht. Da soll man sich von einem Buch, das mehr oder weniger aus Versehen fatalistisch geraten ist, den Blick nicht verstellen lassen.
Mittlerweile haben beide Sprüche für mich ihren Schrecken verloren. Nicht in erster Linie, weil sie widerlegt worden wären, sondern weil sich ihre Bedeutung als begrenzt herausgestellt hat. Das kann schon sein, dass wir als Jugendliche schlechter erzogen waren als unsere Eltern – was immer das heißen mag –; aber mit meinen mittlerweile erwachsenen Altersgenossen habe ich deswegen keine ernsthaften Probleme. Es ist auch richtig, dass die gesellschaftlichen Leitbilder Moden folgen, die mir häufig überhaupt nicht passen. Nur habe ich inzwischen erlebt, dass diese Moden mir persönlich ausreichend Freiheit lassen – auch wenn ich für diese Freiheit gelegentlich bezahlen muss.
Wie kommt es dann, dass Peter Winterhoff-Spurk diese längst erledigt geglaubten Sprüche in meinem Kopf wieder zum Leben erweckt? Wohlgemerkt: Die Sprüche selbst stehen nicht in dem Buch. Der Autor ergeht sich weder in konservativem Weltschmerz noch in vulgärlinken Spekulationen über irgendwelche militärisch-industriellen Finsterlinge, die uns um des schnöden Profits willen einer kollektiven Gehirnwäsche unterziehen. Winterhoff-Spurk, Professor für Psychologie in Saarbrücken, teilt uns zunächst seine und seiner Fachkollegen Beobachtungen zum Thema Medienpsychologie mit.
Den einen Teil dieser Beobachtungen kann man mühelos am eigenen Fernseher nachvollziehen. Die Sendungen werden kurzatmiger, oberflächlicher und immer stärker auf die Inszenierung einer Einzelperson konzentriert. Während ein Politiker 1985 durchschnittlich 92 Sekunden am Stück Zeit hatte, seine Gedanken mitzuteilen, waren es 1998 gerade noch 23 Sekunden. Talkshows, inszenierte Gefühlsaufwallungen wie die »Traumhochzeit«, deren Moderatorin Linda de Mol eine Art Leitfigur des Buchs ist, und Pseudoeinblicke ins Intimleben wie »Big Brother« schießen ins Kraut. Das bleibt zweifellos nicht ohne Wirkung auf den Zuschauer. Noch 1990 pflegte der deutsche Durchschnittsmensch täglich zwei Stunden und fünfzehn Minuten fernzusehen; diese Zeit ist in nur fünfzehn Jahren auf dreieinhalb Stunden angewachsen und liegt damit nur noch eine Stunde unter dem amerikanischen Standard.
Kein Wunder, dass vor allem die Kinder und Jugendlichen ihre Rollenvorbilder in immer größerem Maß aus dem Fernsehen beziehen, selbst hektisch, zappelig und oberflächlich werden und vorzugsweise auf einzelne erregende Events und die Darstellung des eigenen Äußeren abfahren. So weit der zweite Teil der Beobachtungen, die durch sorgfältig durchgeführte soziologische Studien belegt werden. In seiner Interpretation geht Winterhoff-Spurk darüber jedoch noch weit hinaus. Das Fernsehen etabliere einen neuen Sozialcharakter, der sich auch deshalb so stark ausbreite, weil er perfekt auf die Anforderungen der neuen Arbeitswelt passe: Flexibilität, ständig neue Aufgaben und Arbeitsumgebungen, beeindruckende Selbstdarstellung statt Aufbau langfristiger Vertrauensverhältnisse.
Der Autor gibt diesem Charakter einen eigenen Namen: Histrio, von der altrömischen Bezeichnung für einen Schauspieler, Tänzer oder Musiker. Ein ganzes Kapitel widmet er dem Versuch, zwei Galionsfiguren des deutschen Kinos, Marlene Dietrich und Leni Riefenstahl, per posthumer Ferndiagnose den histrionischen Charakter zu attestieren. Durch dieses präzise Zusammenwirken des Fernsehens und der in der Arbeitswelt wirksamen Kräfte steuere unsere Gesellschaft auf einen Zustand hin, in dem der histrionische Charakter dominiere.
»Trübe Aussichten: ein politisch desinteressierter, gesellschaftlich nicht engagierter, an seinen Arbeitgeber emotional nicht gebundener, psychich labiler, egoistischer, vor allem mit seiner Inszenierung beschäftigter und an Events interessierter Single als Bürger der Zukunft.« Indem Winterhoff-Spurk alles zusammenträgt, was für seine These spricht, und die bunte Vielfalt der anderen gesellschaftlichen Strömungen weit gehend ausblendet, erscheint der von ihm beschriebene Trend in der Tat als unausweichliches Schicksal.
Entsprechend trostlos fällt das Schlusskapitel »Was tun?« aus. Außer der realitätsfernen Idee, es könne ja jeder persönlich seinen Fernseher abschaffen, fällt ihm nicht viel ein. Immerhin gibt er zur Belustigung des Lesers zu, dass seine eigene Fernsehlosigkeit weniger einem heroischen Entschluss als einem Versehen zuzuschreiben ist (Kabelanschluss aus Zorn gekündigt und keinen Ersatz beschafft). Was soll man davon halten? An den Fakten ist wenig zu rütteln. Das Thema ist auch alles andere als unbedeutend. Gewisse Dinge waren früher wirklich besser, und anonyme gesellschaftliche Kräfte üben tatsächlich eine erhebliche Macht auf den Einzelnen aus. Es ist dem Autor auch nicht vorzuwerfen, dass er sich auf sein Thema konzentriert.
Den fatalen Eindruck der Unausweichlichkeit, den er damit als Nebenfolge im Kopf des Lesers erzeugt, muss dieser selbst korrigieren. Es gibt genug Ausweichmöglichkeiten; sie bestehen nicht nur im Rückzug ins Private. Auch die vorliegende Zeitschrift lebt bis heute, obwohl sie dem Trend zur Kurzatmigkeit nur hinhaltend und widerwillig Folge leistet. Aber gegen den Trend zu schwimmen erfordert, wie üblich, Fantasie und Mühe. Beides wendet nur auf, wer gewisse Erfolgsaussichten sieht. Da soll man sich von einem Buch, das mehr oder weniger aus Versehen fatalistisch geraten ist, den Blick nicht verstellen lassen.
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