»Kognitive Apokalypse«: Kostbare Gehirnzeit
In unserer sich ungeheuer rasch wandelnden Gegenwart sind wir auf kluge Analysen der unübersichtlichen Veränderungen angewiesen. Dazu möchte der französische Soziologe Gérald Bronner seinen Beitrag leisten. Er holt weit aus – ein Kapitel heißt »Eine andere Geschichte der Menschheit« –, um den Einfluss der modernen Medien auf unser Zusammenleben herauszuarbeiten.
Originell ist Bronners Buch schon allein insofern, als es die vernetzte Computerwelt aus dem Blickwinkel eines französischen Intellektuellen betrachtet. Die großen Firmen, die die Digitalisierung vorantreiben, von Microsoft und Apple bis zu Alphabet und Meta, sitzen in den USA, und entsprechend sind die einschlägigen Forschungen und Entwicklungen fest in angelsächsischer Hand. Die Sprache der Informatik ist Englisch; daran kann die Hartnäckigkeit, mit der Franzosen statt Computer »Ordinateur« sagen, wenig ändern.
Bronners polemische Beschreibung moderner Sitten und Unsitten steht in der Tradition der französischen Aufklärung. So wie diese einst die Macht des rationalen Denkens gegen die tradierte Religion ins Feld führte, rückt er dem in den sozialen Medien grassierenden Meinungswirrwarr mit kühlen Analysen zu Leibe. Dabei greift er gern auf empirische Studien über tierisches Verhalten und über das menschliche Gehirn zurück.
Zunächst betont Bronner, welch enorme Chancen die Digitalisierung eröffnet. So wie die Maschine dem Menschen in der industriellen Revolution schwere körperliche Arbeit abnahm, befreit ihn nun die oft »Industrie 2.0« genannte Digitalisierung tendenziell von repetitiver, stumpfsinniger geistiger Tätigkeit. Dadurch nimmt der frei disponible Spielraum für intellektuelle Tätigkeiten, von Bronner »Gehirnzeit« genannt, deutlich zu.
Nur: Was fängt der Mensch mit der gewonnenen Zeit an? Hier zeigt sich für Bronner der Pferdefuß des Fortschritts: Zeitgleich mit der Computerisierung der Warenproduktion etabliert sich die digital vernetzte Kommunikation und droht die gewonnene Gehirnzeit mit Informationsmüll zu fluten.
Die sozialen Medien sind nun einmal darauf programmiert, Nutzer anzulocken und sie nicht wieder loszulassen. Im Konkurrenzkampf um das knappe Gut der Aufmerksamkeit gewinnen diejenigen Algorithmen, die die spektakulärsten und sensationellsten Nachrichten bevorzugen. Deshalb haben auf dem digitalen Meinungsmarkt Verschwörungstheorien leichtes Spiel: Auf den ersten Blick ist die oftmals komplizierte Wahrheit viel langweiliger als eine noch so verrückte, aber simple Gegenbehauptung.
Bronner bezeichnet diesen inzwischen offensichtlichen Zusammenhang als digitale Apokalypse. Wie er betont, sei damit nicht wie sonst üblich eine finale Katastrophe gemeint, sondern der ursprüngliche Wortsinn: Enthüllung, Offenbarung.
Aber was offenbart sich da? Mit seinen zahlreichen Zitaten aus der Tier- und Verhaltensforschung will Bronner nahelegen, dass die digitale Apokalypse unsere wahre Natur enthülle, unser tierisches Erbe. Wenn er zum Beispiel erwähnt, dass das Internet in großem Umfang pornografisches Material transportiert, kommt er gleich auf Rhesusaffenmännchen zu sprechen, die sich durch den Anblick des Hinterteils geschlechtsreifer Weibchen von der Nahrungssuche ablenken lassen.
Auch wo Bronner sich auf die Hirnforschung beruft, garniert er damit soziologische Befunde, ohne viel zu deren Erklärung beizutragen: »… manche Aspekte unseres öffentlichen Lebens vermitteln den Eindruck, es gerate immer stärker unter die Herrschaft weiter hinten gelegener Hirnregionen wie des Hippocampus oder der benachbarten Amygdala, die für kurzfristige Belohnungen sensibel sind, als unter die Herrschaft des orbitofrontalen Cortex.«
Vulgär ausgedrückt, läuft Bronners Apokalyptik auf die These hinaus, im Internet offenbare sich unser innerer Schweinehund. Oder manierlicher: Die digitalen Netze reduzieren uns auf einen tierähnlichen Naturzustand.
Mit diesem Befund möchte der Autor sich von all jenen abheben, die auf das Verdummungspotenzial der sozialen Medien mit Gesellschaftskritik reagieren und beispielsweise fordern, die derzeit ganz und gar deregulierten Meinungsmärkte einer wie immer gearteten Kontrolle zu unterwerfen. Solche Ideen gehören für Bronner in eine Tradition, die er mit Namen wie Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse oder Pierre Bourdieu assoziiert. Sie alle, behauptet Bronner kühn, sähen in den Massenmedien eine »Entfremdung von der menschlichen Natur« und forderten deshalb ganz im Sinn des Frühaufklärers Jean-Jacques Rousseau ein utopisches »Retour à la nature«.
Gegen dieses Abziehbild von Sozialkritik führt Bronner seine konträre Diagnose ins Feld: Die digitale Apokalypse verwirklicht ironischerweise hier und heute die rousseausche Utopie, indem sie das Tier im Menschen von der Leine lässt.
Das findet Bronner bei aller intellektuellen Genugtuung aber letztlich doch nicht in Ordnung und ruft deshalb im letzten Kapitel zu einem »Endkampf« auf. Worin der konkret bestehen soll, bleibt freilich offen. Vermutlich soll man sich wieder mehr Zeit nehmen und, statt im Internet zu surfen, das Gehirn mit Lektüre verwöhnen. Dafür kommt Brenners Buch durchaus in Frage. Es unterhält mit Esprit und präsentiert einen bunten Strauß von Anekdoten. Dass dabei wenig herauskommt, muss einen nicht stören.
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