Im Tal der Wissenschaft
In seinem neuen Buch nimmt uns Peter Finke mit auf eine Tour durch die Wissenschaft, die für ihn eine Berg- und Talfahrt ist, deren Anfang stets im Tal liegt, nämlich der Amateurforschung. Finke war bis 2006 als Professor für Wissenschaftstheorie an der Universität Bielefeld tätig; aus Protest gegen die Bologna-Reform trat er damals freiwillig aus dem regulären Dienst aus. Er gilt als scharfer Kritiker der heutigen Wissenschaftspraxis und Forschungspolitik. Gegliedert ist sein Buch in neun Vorträge, die er in wissenschaftlichen Einrichtungen gehalten hat. Darin erläutert er, warum Laienforschung stärkere Beachtung verdient, welche Vorteile die nebenberufliche Forschung und welche Nachteile das hauptberufliche Forscherdasein hat. Letzteres, schreibt Finke, sei stets hierarchischen und wirtschaftlichen Zwängen und Vorgaben unterworfen. Eine Kooperation von Profis und Laien sei heute unverzichtbar.
Der Autor vergleicht die Wissenschaft mit einem Gebirge, in dem die Gipfel (sprich die größten Errungenschaften und Durchbrüche) am stärksten hervorstechen. Doch diese Gipfel, so separiert sie auch sein mögen, ruhen auf einem gemeinsamen Untergrund, der auch die Sohle der Täler bildet. Dieser Untergrund ist laut Finke die Arbeit der Amateure und Laien. Spitzenforschung allein, schreibt er, verliere den Sinn für Zusammenhänge. Erst die verbindenden Täler seien es, die wissenschaftliche Einzelresultate relativierten und in einen inhaltlichen Bezug zueinander stellten. Dies mache wissenschaftliche Erkenntnisse für unser individuelles Leben überhaupt erst nutzbar. Tatsächlich hat Bürgerwissenschaft, auch »Citizen Science« genannt, oft einen starken Alltagsbezug – beispielsweise wenn es um Tier- oder Pflanzenbeobachtung oder um Forschungsprojekte zur Ortsgeschichte geht. Jedoch ist fraglich, inwieweit Finke ihre Rolle überschätzt, denn Citizen Science hat ihre Grenzen dort, wo die Methodik sehr komplex, die Datenerfassung und -verarbeitung sehr anspruchsvoll oder die Mitwirkung von Amateuren aus ethischen Gründen (etwa im Medizinbereich) problematisch wird. Und das trifft nun einmal auf sehr große und sehr relevante Teile der Wissenschaft zu. Leider bleibt der Autor hier oberflächlich und ergänzt seine These nicht durch entsprechende Beispiele.
Das Lokale in Zeiten der Globalisierung
Finke fordert, die akademische Wissenschaft dürfe sich nicht in Labors und virtuelle Welten zurückziehen, sondern müsse immer an die Gesellschaft und aktuelle Entwicklungen angebunden bleiben. Leider jedoch werde sie oft durch Gesetze, Machthierarchien, Forschungsaufträge und selektiv vergebene Fördergelder gelenkt. Der Autor mahnt, die akademische Wissenschaft müsse auf Erkenntnisse der Amateurforschung zurückgreifen, da diese die lokalen Entwicklungen in ihrem direkten Lebensumfeld im Auge habe. Als Beispiel dafür nennt er Untersuchungen dazu, wie oft bestimmte Vogelarten in verschiedenen Regionen vorkommen.
Amateure, so Finke, könnten dort Feldforschung betreiben, wo Berufswissenschaftlern die Kapazitäten dazu fehlten. Er plädiert dafür, Citizen Science als eigenständige Forschung wahrzunehmen und zu fördern. Es handle sich nicht nur um eine Hilfswissenschaft für die akademische Forschung. In Zeiten von Internationalisierung und Globalisierung sei das Regionale und Lokale als umso wichtiger einzuschätzen.
Bürgerwissenschaft ernst zu nehmen, bedeutet für den Autor nicht nur eine Demokratisierung der Wissenschaftslandschaft. Vielmehr sieht er dies als Voraussetzung dafür an, drängende Umwelt- und Gesellschaftsprobleme zu lösen, da die Amateurwissenschaft für eine Anbindung an die Wirklichkeit sorge, welche die Berufswissenschaft oft nicht gewährleisten könne. Durch Zerfall in tausende Disziplinen und Unterdisziplinen zementiere die akademische Forschung einen Wirklichkeitsverlust; statt auf den nächsten Gipfel zu stürmen, müsse sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Doch die Politik fördere Industrie- und Zweckforschung, was die wissenschaftliche Freiheit erheblich einschränke und zudem oft an einer gesellschaftlichen Relevanz vorbeigehe. Um die großen Probleme des Planeten zu lösen, müsse Kooperation in kompetenzgemischten Arbeitsgruppen zur Regel und die Wissenschaft aus ihrem institutionellen Korsett befreit werden.
Leider bringt Finke für seine Behauptung, die Ausdifferenzierung der Wissenschaft führe zur Abkopplung von der Wirklichkeit, allenfalls oberflächliche Belege. Vielmehr begnügt er sich damit, das heutige Wissenschafts- und Hochschulsystem anzuklagen. Sicherlich ist es von großer Bedeutung, eine wissenschaftliche Transdisziplinarität zu fördern. Doch an den »Frontlinien« der heutigen Forschung (etwa in der Teilchenphysik, Gravitationswellendetektion oder molekularen Medizin) sind eine derart hoch entwickelte, komplexe, aufwändige Methodik und ein derart spezialisiertes Wissen erforderlich, dass es ohne starke Ausdifferenzierung überhaupt nicht geht. Finkes Thesen erscheinen deshalb häufig konstruiert.
Der Autor schließt seine Ausführungen mit einer Kritik am Schulsystem. Die Schule sei oftmals kein Lern-, sondern ein »Verlern-«Ort, der wissbegierige Schüler durch Vorgaben und Richtlinien demotiviere. Kreativität und eigenständiges Denken würden so oft zu kurz kommen. Schüler müssten verstärkt zum eigenständigen Forschen animiert werden, um langfristig eine starke und kritische Bürgerwissenschaft hervorzubringen, die ihre Gegenwart aktiv mitgestalten möchte. Eine demokratisch organisierte Wissenschaft sei hierfür die Voraussetzung.
Leider verliert sich der Wissenschaftstheoretiker zum Teil in polemischen und verallgemeinernden Äußerungen, die nicht uneingeschränkt haltbar sind. Etwa, wenn er der akademischen Forschung vorwirft, an der Realität vorbei zu forschen. Wenn er das schon postuliert, muss er auch differenziert darlegen, warum. Leser, die sich kritisch mit unserem Wissenschafts- und Hochschulsystem auseinandersetzen möchten und Anregungen zum Selberforschen suchen, mögen dennoch die eine oder andere Anregung in dem Werk finden.
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