Schwergewicht Archäologie
Mehr als 550 Seiten dick, aufgeschlagen über einen halben Meter breit und rund zweieinhalb Kilogramm schwer: Handlich ist dieses archäologische Überblickswerk ganz sicher nicht. Zum Glück, denn anders wäre den Herausgeberinnen und Herausgebern vermutlich kein so umfassender Überblick gelungen, der den aktuellen Stand archäologischer Forschung in Europa wiedergibt. Im Gegensatz zu anderen Prachtbänden, die häufig mit aufwändigen Fotografien glänzen, inhaltlich aber kaum mehr als lexikonartige Beschreibungen bieten, überzeugt dieses Buch durch anspruchsvolle populärwissenschaftliche Beiträge, die den aktuellen Forschungsstand detailreich und sehr gut zugänglich vermitteln. Der heimliche Star des Werks ist dabei die Archäologie selbst. Das überrascht nicht, denn die Herausgeber sind vom Deutschen Archäologischen Institut und sämtliche Autoren ausgewiesene Experten auf ihrem Gebiet. Leider verzichtet das Buch auf ein Autorenverzeichnis, das den Protagonisten mehr Sichtbarkeit verliehen hätte.
Streifzug durch die Epochen
Ihren Anspruch auf Vollständigkeit unterstreichen die Autoren schon dadurch, dass sie ihre Reise durch die europäische Geschichte mit vermutlich 800 000 Jahre alten fossilen Fußspuren an der Themsemündung beginnen. Diese Abdrücke markieren derzeit die ältesten Zeugnisse menschlicher Besiedlung auf dem alten Kontinent. Von hier aus durchstreifen die Autoren in diversen Abschnitten die klassischen Epochen von Stein- über Eisenzeit, Antike und Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Trotz chronologischer Anordnung der einzelnen Kapitel konzentrieren sie sich auf übergreifende »Fragen der Mobilität, Innovation, Widerstandsfähigkeit und der langzeitlichen sozialen Prozesse«, wie die Herausgeber im Vorwort schreiben. Der Fokus liegt dabei vor allem auf dem mitteleuropäischen Raum.
Anhand aktueller archäologischer Befunde gewährt das Buch einen Einblick in verschiedene gesellschaftliche Bereiche der jeweiligen Epochen, etwa in das Alltagsleben der Germanen oder die Bedeutung und den Niedergang mittelalterlicher Burgen. Die Beiträge vereinen bekanntes Wissen mit neuen Forschungsergebnissen. Sie erlauben es den Lesern, Archäologen bei der Arbeit zuzuschauen, und erklären, mit welchen modernen Mitteln heute gearbeitet wird. Drohnen beispielsweise ergänzen Feldbegehungen, Pollenanalysen veranschaulichen die frühere Flora, DNA-Untersuchungen haben die Erforschung der Ur- und Frühgeschichte nahezu revolutioniert. Hervorragende Fotos, Kartenmaterial und wirkungsvolle Illustrationen begleiten die Texte und machen den Stoff anschaulich. Außerdem ist ein Orts- und Fundplatzregister angefügt.
Wissenschaftliche Modernität drückt sich nicht nur in neuer Technik aus, sondern auch im Überprüfen etablierter Denkansätze. Die Archäologen Knut Rassmann und Franz Schopper zum Beispiel stellen in ihrem Kapitel »Bronzezeit – Historische Epoche oder Fiktion?« die klassische Zeiteinteilung in Frage und begründen das durch Vergleiche mit anderen Weltregionen, in denen die aufkommende Bronzemetallurgie einen geringen oder gar keinen Einfluss hatte. Gut nachvollziehbar erklären sie, wie das Metall in Europa als »treibende Kraft« neue Siedlungsräume erschloss, neue Statussymbole und Waffen – verbunden mit neuen Hierarchien und Konflikten – hervorbrachte und ein überregionales Handels- und Kommunikationsnetz ermöglichte. Dies alles, so geht aus dem Band hervor, rechtfertigt einen eigenen Anstrich der europäischen Geschichte.
In die Kapitel eingestreut finden sich immer wieder »Fenster zur Welt«: jeweils eine Doppelseite mit einer Seite Text und einer Seite Bildmaterial zu einem bestimmten Thema. Die Autoren bringen den Lesern darin einzelne Artefakte, Ausgrabungsstätten oder größere Regionen näher. Metallkessel und Fibeln etwa veranschaulichen kulturelle Netzwerke in Skandinavien und anderen nördlichen Siedlungsgebieten während der Bronzezeit. Archäologische Untersuchungen auf dem Gräberfeld von Szólád wiederum verraten etwas über die Besiedlung der heute ungarischen Region während der so genannten Völkerwanderungszeit. Die mongolische Hauptstadt Karakorum schließlich erlaubt Aussagen darüber, welche politische Relevanz die Städte während des Mittelalters besaßen. Anhand verschiedener Beispiele, darunter die archäologisch erschlossenen Hinterlassenschaften von Jamestown (der ersten ständigen Siedlung europäischer Einwanderer auf nordamerikanischem Boden), bildet das Buch ebenso die Verbindung Europas zu anderen Teilen der Welt ab.
Besonders bereichernd ist das Werk in seinen selbstreflektierenden Abschnitten, welche die chronologische Erzählung einrahmen. Darin blicken die Archäologen unter anderem auf die Geschichte ihrer Disziplin zurück und gehen auf deren ideologischen Missbrauch zur Zeit des Nationalsozialismus ein. An anderer Stelle befassen sie sich mit dem methodischen Fortschritt, bei dem inzwischen immer häufiger modernste Technik im Mittelpunkt steht. Den Schluss bildet eine Betrachtung darüber, welche gesellschaftliche Bedeutung und Funktion die Archäologie hat. Die Autoren betonen hier zwar die starke Präsenz in den Medien, warnen aber vor Stereotypisierung, »Dramatisierung und Emotionalisierung« der Wissenschaft sowie vor dem Reduzieren allein auf die Grabungstätigkeit. So hat die »Archäologie der Moderne« – im Buch unter anderem durch die Erforschung früherer Konzentrationslager repräsentiert – einen starken Gegenwartsbezug im Sinne einer Erinnerungskultur. Denkmalpflege, Museumsarbeit und Bücher wie dieses leisten dazu einen wichtigen Beitrag.
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