»Vor dem Big Bang«: Wenn der Schein grundsätzlich trügt
Es gibt viele populärwissenschaftliche Bücher über den Ursprung des Universums. Klassisch ist damit der dichte, heiße Anfangszustand gemeint, den Georges Lemaître und George Gamow als Erste theoretisch erfasst haben. 1949 hat Fred Hoyle das dramatische Ereignis scherzhaft als »Big Bang« bezeichnet – eine Bezeichnung, die sich durchsetzte und aus der im Deutschen der »Urknall« wurde. Dessen wissenschaftliche Beschreibung hat sich seit den 1980er Jahren radikal verändert, etwa durch spektakuläre Beobachtungen und die Erkenntnisse der Quantenphysik. Das aktuelle »ΛCDM-Modell« – das Inflationstheorie und Dunkle Materie/Energie beinhaltet – postuliert eine Ära »vor dem Big Bang«. Alles begann mit einer Quantenfluktuation – sehr zum Ärger der Theologen, die den Zufall verabscheuen. Natürlich berücksichtigen die meisten Bücher zum Thema diesen neuesten Stand der Theorie, so dass man den Titel dieses Werks von Gian Francesco Giudice eher als Marketinggag sehen kann. Das Buch insgesamt hat aber ein ganz anderes Niveau.>
Denn sein Autor ist kein Geringerer als der Leiter der Abteilung Theoretische Physik am CERN in Genf. Mitunter wird behauptet, dass der dortige Large Hadron Collider den Urknall »simuliert« – das ist natürlich Blödsinn. Der LHC kann mit seinem Durchmesser von 9,6 Kilometern auch nicht ansatzweise die Energie erzeugen, die dem Urknall entspräche – dazu bräuchte man einen Teilchenbeschleuniger mit dem Durchmesser der Milchstraße! Allerdings lassen sich bereits bei »geringer« Energie beachtliche Erkenntnisse über den kosmischen Anfangszustand gewinnen und so die Annahmen des Standardmodells testen.
Das handliche Paperback hat 231 Seiten. Das Original erschien 2023 in Italien als »Prima del Big Bang«. Es gibt einige schlichte Schwarz-Weiß-Abbildungen. Das Layout ist ansprechend, der flüssige Text leicht verständlich. Das Buch enthält 17 Kapitel; zu jedem gibt es am Ende Literaturhinweise. Leider fehlt ein Stichwortverzeichnis.
Dunkle Energie und die Frage nach dem Schöpfer
Die Kosmologie ist ein Paradebeispiel für eine Wissenschaft, in der einen Alltagserfahrungen, wie sie die Newtonsche Physik beschreibt, in die Irre führen können. Diese Erfahrungen bieten gleichwohl evolutionäre Vorteile, mit denen Relativitätstheorie und Quantenphysik, die außerhalb unserer Intuition angesiedelt sind, nicht dienen können. Anschaulich erläutert der Autor dies im Kapitel »Die Form des Universums«, dort heißt es: »Ein Höhlenmensch, der über die Bewegung von Körpern in der Nähe eines Schwarzen Lochs nachdenkt oder die Heisenbergsche Unschärferelation erahnt, würde leicht von der ersten vorbeikommenden Bestie zerrissen werden, ohne die Zeit zu haben, seine außergewöhnlichen Gene an zukünftige Generationen weiterzugeben.« Bereits bei der Einschätzung von Entfernungen täuschen wir uns. Erscheint uns das nahe All mit seinen Sternen und Galaxien inhomogen, so verschwinden im Großen alle Details, nur das Grobe bleibt sichtbar: das Universum als »sphärische Kuh«.
Ein weiteres Beispiel für die Begrenztheit alltäglicher Anschauung ist die mysteriöse Dunkle Energie, repräsentiert durch die kosmologische Konstante Λ. Bei kleiner Entfernung ist die anziehende Gravitation ihre dominante Eigenschaft. Sie wirkt aber bei zweifachem Abstand vier Mal schwächer, während sich die abstoßende Λ-Kraft verdoppelt. Die Dunkle Energie führt im Großen zur beschleunigten Expansion. Gleichzeitig kann man sie als ein Quantenphänomen deuten. Makro- und Mikrokosmos vereinen sich in ihr – aber leider fehlt noch die eine Theorie, die beide zu erfassen vermag. Der Mensch steht staunend dazwischen.
Neben physikalischen Themen beleuchtet Giudice auch historische Zusammenhänge. Einstein, de Sitter, Friedmann oder Hubble spielen eine wichtige Rolle. Alle bedeutenden Entwicklungen werden diskutiert. Formeln sucht man aber vergebens; Ausnahme ist Einsteins Gravitationsgleichung, wie sie an der Außenwand des Rijksmuseum Boerhaave in Leiden zu sehen ist. Was die Theorie angeht, so wird alles geboten: Expansion, kosmische Strukturen, Hintergrundstrahlung, Inflation, Vakuumenergie, Zeitpfeil, Quantengravitation – jeweils mit den bekannten Protagonisten. Ein wichtiges Thema ist die Lösung der Probleme, die sich aus der beobachteten großräumigen Homogenität und Flachheit des Universums ergeben. Dabei taucht notwendigerweise die Frage nach dessen Unendlichkeit auf. Auch das Multiversum und das anthropische Prinzip werden diskutiert. Giudices Fazit: Auch das ΛCDM-Modell kann keine befriedigenden Antworten auf alle Fragen liefern.
Nach dem Kapitel »Und was war vorher?« geht Giudice dann abschließend in »Der Big Bang jenseits der Wissenschaft« noch auf Mythen, Sagen und Religion ein. Hier stellt sich natürlich die Frage: »Gibt es noch einen Platz für einen Schöpfer?« Lassen Sie sich von den Antworten des Autors überraschen!
Das Buch lässt keine Wünsche offen – eine faszinierende Synthese aus Astrophysik, Geschichte und Philosophie. Es ist geprägt von Fachwissen auf hohem Niveau, gepaart mit didaktischem Geschick. Die Lektüre ist ein Genuss, egal ob man Laie oder Wissenschaftler ist.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben