Unverzichtbare Mikroben
Viren, Archaeen und Bakterien sind uns zahlenmäßig weitaus überlegen. Die von Letzteren verursachten Infektionen waren früher in zahllosen Fällen ein Todesurteil, weshalb die Sicht auf sie lange Zeit überwiegend negativ war. Man verband sie mit unhygienischen Zuständen, Krankheiten und Epidemien. Die Entdeckung der Antibiotika nahm den winzigen Organismen zwar schlagartig ihren Schrecken, aber nicht für immer: Mehr und mehr mutieren Mikroben heute zu so genannten Superkeimen, denen kein gängiges Antibiotikum mehr etwas anhaben kann.
In den zurückliegenden Jahren ist dennoch die nützliche Seite der Mikroorganismen stärker in den Vordergrund gerückt. Das wohl bekannteste Beispiel sind Patienten mit schweren Darminfektionen, denen es durch Stuhltransplantationen gesunder Menschen, mitsamt den darin enthaltenen Bakterien, schlagartig besser geht. Das Wort »Mikrobiom«, das die Gesamtheit aller Mikroorganismen in und auf unserem Körper beschreibt, ist eindeutig positiv besetzt – ein drastischer Wandel von der Keimphobie hin zur Mikrobenmanie.
Weiter Bogen
In diesem Buch ordnet Ed Yong die unübersichtliche Welt der Mikrobiomforschung. Der renommierte Wissenschaftsjournalist beschränkt sich dabei keineswegs auf den Einfluss der Mikroorganismen auf den Menschen, sondern spannt ganz bewusst einen weiten Bogen über das gesamte Reich der Biologie und liefert so ein umfassendes Bild davon, welchen Wert die Mikroben für das irdische Leben haben. Nach einer kurzen Einführung wendet er sich der Geschichte dieses Forschungsgebiets zu. Anschließend geht er auf die Leistungen der winzigen Lebewesen ein und beschreibt, wie sie mit ihren Wirten zusammenarbeiten, deren Verhalten und Entwicklung steuern und ihnen Superkräfte verleihen. Yong schildert, wie solche Symbiosen entstehen und warum sie von Dauer sein können, aber auch, wie Mikroorganismen Krankheiten verursachen und wie wir unser Wissen über all das sinnvoll einsetzen können.
Yong schafft den Spagat zwischen Wissensvermittlung und Unterhaltung, indem er wissenschaftliche Studien erläutert sowie gut recherchierte Fakten mit anschaulichen Beispielen und Vergleichen verknüpft. Sein Buch ist auf keiner Seite langweilig, trocken oder irrelevant. Das gelingt ihm unter anderem dadurch, dass er die Forscher als Menschen mit Zielen, Hoffnungen und Begeisterung vorstellt – Menschen, die auch mal scheitern, verzweifeln, sich durchbeißen und weitermachen. Diese persönlichen Beschreibungen machen Yongs Buch lebhaft und mitreißend.
Als Wissenschaftsjournalist legt der Autor großen Wert darauf, Studienergebnisse einzuordnen – insbesondere bei Themen, die Menschen direkt betreffen, etwa Stuhltransplantationen, Probiotika und der Zusammenhang zwischen Fettleibigkeit und Darmbakterien. So unterscheidet sich zwar die Darmflora zwischen normalgewichtigen und übergewichtigen Menschen. Die Bakterien sind aber nicht allein verantwortlich für die zusätzlichen Kilos, wie Experimente an Mäusen zeigten. Schließlich beeinflusst man mit jedem Bissen, was die körpereigenen Bakterien zu verzehren bekommen. So gedeihen die typischen Darmbewohner von Übergewichtigen bei fetthaltiger, ballaststoffarmer Ernährung prächtig. Bei überwiegend pflanzlicher und ballaststoffreicher Nahrung Ernährung bleibt für sie jedoch kaum etwas übrig, was sie verwerten können, und sie hungern schlicht aus.
Häufig dämpft der Wissenschaftsjournalist übertriebene Erwartungen und Hoffnungen, indem er erläutert, was Forscher wissen und was noch unklar ist. Sein teils häufiger Gebrauch des Pronomens »wir« macht den Text leider gelegentlich etwas unpräzise, weil an manchen Stellen nicht klar wird, ob er damit Menschen, Säugetiere oder Tiere im Allgemeinen meint.
Die Lektüre lässt einen staunen über die Macht der Mikroben und verändert den Blick auf den Ursprung des Lebens, die Evolution des Soziallebens und die Artbildung, aber auch auf das Immunsystem, die Bedeutung von Muttermilch oder Sushi. Bei der Themenfülle des Buchs ist es nur natürlich, dass man als Leser(in) manchmal mehr wissen möchte, als der Autor liefert. Das umfangreiche Quellenverzeichnis eignet sich aber bestens zur weiteren Recherche. Ebenso erweist sich das Stichwortregister als sehr hilfreich, um bestimmte Aspekte oder Personen noch einmal nachzuschlagen. In der Mitte des Buchs finden sich farbige Bilder der erwähnten Tier- und Pflanzenarten sowie von den erwähnten Zoo- und Laborbesuchen.
Yongs Begeisterung für Mikroorganismen ist ansteckend. Er stellt in dem Band vor allem eines klar: Mikroorganismen sind weder gut noch böse. Es kommt auf den Kontext an, in dem sie leben – und manchmal machen bereits wenige Millimeter den Unterschied. Yong findet, dass es an der Zeit ist, Mikroorganismen als das anzusehen, was sie sind: unverzichtbare Bestandteile dieser Welt.
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