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Der doppelte JHWH

"Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein" (Deuteronomium 6,4): Die These, das Judentum habe den Monotheismus erfunden, galt in der Religionswissenschaft lange Zeit als gut belegt – nicht zuletzt wegen dieser Bibelstelle.

Doch trifft das wirklich zu? Entstand vor gut dreitausend Jahren irgendwo in den Dörfern Galiläas und Judäas tatsächlich der Glauben an den einen Gott Jahwe – und lag hierin der Ursprung des Judentums? Nicht unbedingt, meint Peter Schäfer, Direktor des Jüdischen Museums Berlin. "Der jüdische Himmel begnügte sich keineswegs immer mit einem Gott, sondern war trotz aller gegenläufigen Tendenzen und trotz zahlreicher Versuche, diesen Trend aufzuhalten, oft auch mit zwei Göttern oder mit mehreren göttlichen Potenzen bevölkert."

Ausgehend von der Erkenntnis, der Begriff "Monotheismus" (ein Kunstwort aus dem 17. Jahrhundert) beschreibe ein Ideal, das "immer wieder angestrebt, aber selten durchgesetzt wurde", begibt sich Schäfer auf die Spurensuche nach diesen göttlichen anderen Kräften. Fündig wird der renommierte Judaist dabei in der hebräischen Bibel, die er mit geschultem Blick einer textkritischen Analyse unterzieht.

Von El bis Aschera

Schäfer zeichnet ein vielschichtiges Bild von religiösen Vorstellungen im alten Israel, in denen verschiedene Götter nebeneinander standen und miteinander agierten. In der hebräischen Bibel beispielsweise, die die Christen das Alte Testament nennen, lässt sich nachweisen, dass JHWH, der Stammesgott Israels, zahllose andere Gottheiten des ugaritischen und kanaanäischen Pantheons neben sich hatte – darunter den alten Gott El und den jungen Kriegsgott Baal. Und Inschriften vom archäologischen Fundort Kuntillet Adschrud auf der Sinai-Halbinsel erwähnen JHWH zusammen mit der Göttin Aschera, der Anfang des 7. Jh. v. Chr. im Tempel von Jerusalem gehuldigt wurde. Auch sei der in den Zehn Geboten überlieferte Satz: "Ich bin Jahwe, dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir" kein zwingender Beweis für eine monotheistische Gottesvorstellung, schreibt der Autor, da hier nur die ausschließliche Verehrung eines einzigen Gottes gefordert, aber nicht die Existenz anderer Götter bestritten werde.

Seit der Zeit der Könige (ca. 1000-587 v. Chr.) habe es einen ständigen Kampf zwischen verschiedenen Vorstellungen bezüglich des Pantheons gegeben, wobei sich keine davon durchzusetzen vermochte. Erst allmählich habe sich im Judentum der Monotheismus herausgebildet. Schäfer macht dies an der Erneuerung des Glaubens während des babylonischen Exils (587-539 v. Chr.) fest. Erst mit dem Verlust der Selbständigkeit Israels – so der Autor – habe sich der Konflikt zwischen Mono- und Polytheisten zugespitzt. Ausgehend von der Frage nach der Wirksamkeit Gottes versuchten Priester und Gelehrte, die konkurrierenden Götter in JHWH aufgehen zu lassen.

Propheten wie Ezechiel verkündeten, dass Gott auf einem Thronwagen in die Fremde ziehe, JHWH also auch in Babylon gegenwärtig sei, ohne Tempel und ohne Opfergaben. Geleitet von dieser Überzeugung, wonach JHWH nicht mehr ortsgebunden, sondern auch in der Fremde wirkmächtig sei, gewann der Eingottglauben stärker an Gewicht.

Herrgott senior und Herrgott junior

Doch wie Schäfer schlüssig nachweist, gibt es selbst aus der Zeit nach dem Exil zahlreiche Hinweise auf eine göttliche "Zweiheit". Die Wissenschaft hat für dieses Nebeneinander von zwei Weltenlenkern den Begriff "binitarisch" entwickelt. Er soll ausdrücken, dass im Judentum religiöse Vorstellungen existierten, wonach neben dem (in der Regel älteren) Gott ein weiterer, jüngerer existierte.

Diese zweite Gestalt, erstmals fassbar im biblischen Buch Daniel, hat viele Namen und viele Erscheinungsformen: "Menschensohn", "Sohn des Höchsten" oder "Erstgeborener vor aller Schöpfung". Schäfer verweist in diesem Zusammenhang auf den Menschen Henoch, der laut Altem Testament zum zweiten Gott erhoben und von Gott selbst als solcher deklariert wird: "Du bist der Menschensohn, das heißt der zweite Gott neben mir, der Messias". Hier ergeben sich für Schäfer interessante Parallelen zum Christentum, das seiner Meinung nach die Vorstellung, wonach es einen vergöttlichten Menschen neben Gott im Himmel gibt, von der jüdischen Tradition übernommen hat.

"Zwei Götter im Himmel" ist für jeden, der sich auf die Materie einlassen möchte, eine bereichernde Lektüre über Gottesvorstellungen der jüdischen Antike; manchmal herausfordernd, aber immer anregend.

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