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»Zwischen Eskalation und Selbstkontrolle«: Enthemmt uns das Internet?

Warum sich Menschen im digitalen Raum schamlos und enthemmt verhalten, hat Jacob Johanssen untersucht. Seine tiefenpsychologische Erklärung überzeugt.

Das Internet erscheint einem heute häufig wie ein rechts- und schamfreier Raum voller Äußerungen, die sonst nur hinter vorgehaltener Hand oder in privaten Kreisen geäußert werden. Gerade in den sozialen Medien entladen sich Emotionen in Hasstiraden und sogar Morddrohungen, immer wieder stößt man auf geradezu exhibitionistische Inhalte. Wie lässt sich ein solches Verhalten erklären und welche Folgen hat es?

Jacob Johanssen, Associate Professor an der St. Mary‘s University in London, erklärt sozialpsychologisch fundiert, dass eine solche Enthemmung nur im Zusammenspiel mit Hemmung funktioniert, und prägt deshalb den Begriff »Ent/Hemmung«. Seine theoretische Argumentation gründet im Wesentlichen auf Freuds Psychoanalyse sowie Lacans Thesen zum Zusammenspiel von Enthemmung und Hemmung, die in dieser Denkschule untrennbar miteinander verbunden sind. Auf dieser Basis analysiert der Autor schlüssig Phänomene wie zum Beispiel das Versenden sogenannter dick pics oder auch Selfies. Er beschreibt die dahinterliegenden Mechanismen und bezieht sie auf seine These von Ent/Hemmung. Bei beiden Phänomenen spielen Scham, Exhibitionismus und die Suche nach Anerkennung eine wesentliche Rolle. So zeigt sich in ihnen Verletzlichkeit, aber auch der Wunsch nach Überlegenheit. Mit Blick auf solche Gegenwartsphänomene und ihre Hintergründe wird im Übrigen auch Freuds These noch eingängiger, nach der strukturelle Hemmung eine wesentliche Bedingung für moderne Gesellschaften und zivilisiertes Miteinander sei.

Zurschaustellung von Intimität

Johanssen widmet auch Reality-TV-Formaten ein eigenes Kapitel. Auf den ersten Blick wirkt das etwas aus der Zeit gefallen (wie der Autor auch selbst einräumt), bei näherer Betrachtung veranschaulicht es aber sehr gut die Genese der Zurschaustellung von Intimität, die aktuell in den sozialen Medien auf die Spitze getrieben wird. Im letzten Kapitel wagt der Autor einen Ausblick und formuliert Voraussetzungen dafür, wie das Internet zu einem besseren Ort werden könnte. Er nennt hier das Innehalten und Reflektieren der User. Mit Blick auf Techkonzerne und Medienunternehmen regt er die Verhaltensänderung an, zukünftig nicht mehr die Verbreitung gerade der reißerischsten Inhalte zu befördern und zu belohnen.

Interessant vor diesem Hintergrund sind auch die Ausführungen über das Teilen – ein Vorgang, der eigentlich positiv konnotiert ist, der jedoch vor dem Hintergrund des herrschenden Plattformkapitalismus letztlich vor allem die Aufforderung beinhaltet, möglichst viele Daten von sich preiszugeben. Kindern wird vermittelt, dass Teilen etwas Soziales und Tolles sei – doch sie werden nicht darauf vorbereitet, was es wirklich heißt, im Internet etwas zu »teilen«. Davon profitieren Internetriesen wie Amazon oder Meta, die auf große Datenmengen angewiesen sind, um passgenau Werbung ausspielen und diese entsprechend teuer verkaufen zu können. Dabei gilt: Je emotionaler der Content sind, desto besser für die Werbetreibenden. Für die User werden aber gerade solch emotionale Inhalte häufig zum Problem. Denn soziale Medien sind so aufgebaut, dass sie Glücksgefühle wie Frustrationserlebnisse verstärken und so dafür sorgen, dass User stets nach »mehr«, nach neuer Interaktion verlangen – um das Positive zu wiederholen oder das Negative zu korrigieren. Zudem können sie Vereinsamung erzeugen, indem sie Nähe suggerieren, wo keine ist.

Das Buch wurde vom Verlag zurecht in der Reihe »Gegenwartsfragen« verortet. Denn die digitale Welt und in ihr insbesondere die sozialen Medien prägen heute unsere Kommunikation fundamental und haben massive Auswirkungen auf die Psyche vieler Menschen. Trotz der Tiefe seiner Argumentation ist das Buch nie langatmig, sondern kompakt und auf den Punkt formuliert. Es eignet sich für alle, die nicht nur wissen möchten, wie Menschen sich im Internet verhalten, sondern auch, warum.

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