Der Weltuntergang - gerade noch abgewendet
Ein beliebtes Kochrezept für einen Sciencefiction-Roman ist: Nimm an, die Welt sei in einem einzigen Punkt anders, als sie in Wirklichkeit ist. Arbeite unter Beachtung aller übrigen Gesetze der Physik und der Logik die Konsequenzen dieser Annahme aus und mache daraus eine spannende Geschichte.
Mark Alpert, Astrophysiker und Redakteur bei "Scientific American", hat seine kontrafaktische Annahme schon in dem Vorgängerroman "Die Würfel Gottes" (Page & Turner 2009) getroffen: Albert Einstein hätte nicht, wie in der Realität, jahrzehntelang vergeblich an einer allgemeinen Feldtheorie gearbeitet, sondern sie gefunden – aber nicht veröffentlicht, weil sie zur Konstruktion noch weit schlimmerer Vernichtungswaffen als der Atombombe geeignet wäre. Aber wie diese faustischen Physiker so sind: Er hat es doch nicht übers Herz gebracht, die Weltformel mit ins Grab zu nehmen, sondern jedem seiner letzten vier Assistenten einen Teil davon anvertraut.
In "Die Würfel Gottes" verschaffen sich böse Schurken mit unglaublicher Brutalität die vier Einzelteile; aber bevor sie ernsthaftes Unheil anrichten können, werden sie – mit knapper Not, damit es spannend bleibt – von den Guten aufgehalten. Das sind in erster Linie David Swift, ein Wissenschaftshistoriker, der auffällig viele Gemeinsamkeiten mit Mark Alpert selbst aufweist, und die Physikerin Monique Reynolds, der Traum des politisch korrekten Amerikaners: schwarz, genial und atemberaubend sexy.
Inzwischen sind David und Monique verheiratet und haben ein kleines Kind, aber wieder schlagen die Bösen zu und entführen Davids autistischen Adoptivsohn, in dessen Kopf unsere Helden das Geheimnis sicher untergebracht wähnten. Wieder sind sie nicht nur überaus brutal, sondern verfügen auch über exquisite Kenntnisse der modernen Physik. So können sie mit dem Röntgenlaser, dem Lieblingsspielzeug Ronald Reagans aus der "Star Wars"-Kiste, ungeheure Energien auf beliebig kleinem Raum konzentrieren und damit das Universum zum Absturz bringen.
Zum Programmabsturz, wohlgemerkt, denn das Weltall ist – "Matrix" lässt grüßen – in Wirklichkeit ein gigantisches Computerprogramm, und dessen Designer haben den Speicherplatz für die Werte der Energie ein bisschen knapp bemessen. Also verursacht ein Röntgenlaser so etwas wie einen exponent overflow, daraufhin stürzt das Programm ab, und die Welt ist zu Ende: eine Softwareversion des Jüngsten Tages, welche die kühnsten, aber stets erdgebundenen Pläne der James-Bond-Schurken weit in den Schatten stellt.
Um das Ganze zu bewerkstelligen, brauchen die Bösen nicht nur Einsteins Feldgleichungen, sondern auch gigantische Mengen an Energie. Da muss schon eine Atombombe her; und um nicht die ganze Arbeit selbst machen zu müssen, delegieren die Weltzerstörer die Detailarbeit an die Iraner, die schon immer ein Faible für Massenvernichtungswaffen hatten – aber natürlich über das eigentliche Ziel des Projekts getäuscht werden müssen.
Zu allem Überfluss sind die Wegbereiter der Apokalypse auch noch fundamentalistische Christen aus God’s own country. Das verschafft ihnen ihre unerschütterliche Selbstgewissheit, mit der sie über Berge von Leichen gehen.
Zwischendurch sieht es sehr schlecht aus für das Universum. Aber Rettung naht, weniger in Gestalt von David und Monique, die im späteren Verlauf des Romans eher eine Nebenrolle spielen, als vielmehr durch einige israelische Helden, allen voran einen Physiker, der den Quantencomputer schon viel weiter entwickelt hat, als es der gegenwärtigen Realität entspricht. Also kann er das Faktorisierungsproblem für Produkte großer Primzahlen lösen, damit das Verschlüsselungssystem des amerikanischen Präsidenten knacken und gerade noch rechtzeitig dessen bereits erteiltem Befehl zum Abwurf einer Atombombe den gefälschten Widerruf hinterherschicken. Am Ende opfert er in einer Kamikazeaktion sein Leben, damit die Iraner nicht doch noch selbst an der Bombe zündeln. Aber für diesen Heldentod hat der Leser nicht mehr viele Tränen übrig, nachdem Mark Alpert schon so viele andere Sympathieträger hat über die Klinge springen lassen.
Ja, die Idee, auf sehr moderner, zum Teil spekulativer Physik eine Romanhandlung aufzubauen, hat ihren Reiz. Herausgekommen ist allerdings ein amerikanischer Standardthriller, sauber nach dem Lehrbuch geschrieben – immer dann die Szene wechseln, wenn es am spannendsten ist – und mit einem großen Maß an Gewaltanwendung. Ich gestehe, das hat mir die Freude beim Lesen etwas getrübt.
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