Dem Genie auf den Fersen
Mit Leonardo da Vinci (1452 – 1519) verbinde ich vor allem großen Erfindergeist, natürlich Mona Lisa und vielleicht noch einen alten, bärtigen Mann. Aber war er tatsächlich so genial, wie man es sich erzählt? Hat Mona Lisa nun gelächelt oder nicht? Und was trieb ihr Urheber, bis er zu dem wurde, den wir von Bildern her kennen?
Stefan Klein hat sich auf die Suche nach Antworten gemacht – nicht in Legenden und Anekdoten, sondern in Leonardos Aufzeichnungen. Immerhin sind noch 21 Gemälde sowie rund 100 000 Zeichnungen und Skizzen von ihm erhalten. Heute sind seine Werke in Bibliotheken, Privatarchiven und Museen auf der gesamten Welt verstreut.
"Es will keine Künstlerbiografie sein, die von außen einen Blick auf das Leben des Meisters zu werfen versucht", schreibt der promovierte Biophysiker im Vorwort. "Vielmehr geht es darum, einen der ungewöhnlichsten Menschen, den es je gab, gleichsam von innen her kennen zu lernen – und die Welt durch seine Augen zu sehen." Erste Station seiner Recherchereise ist das berühmteste Gemälde der Welt. Hunderte andere sind an diesem Tag mit demselben Ziel in den Louvre geströmt, wie Klein amüsant zu schildern weiß. Etwa indem er von den in breitem Fränkisch murmelnden Besuchern hinter ihm erzählt, die das Museum für "sehr gut organisiert" halten.
Was macht dieses Gemälde "einer durchschnittlich attraktiven Florentiner Hausfrau" so berühmt? Leonardos Manuskripte verraten, dass er sich ausgiebig mit der Wirkung von Gesichtern auf den Betrachter befasste. Auf unzähligen Skizzen probte er die unterschiedlichsten Mimiken, auf anderen untersuchte er, wie die Helligkeit vom Beleuchtungswinkel abhängt; eine Glasschüssel diente ihm anscheinend als Modell des menschlichen Auges. "In manchen Augenblicken kam es mir so vor, als könnte ich mit ihrem Schöpfer Zwiesprache halten", berichtet Klein über seine Stippvisite in der privaten Bibliothek der englischen Königin auf Schloss Windsor, wo ein großer Teil der Skizzen lagert.
Um zu verstehen, wie ein Gesichtsausdruck zu Stande kommt, sezierte Leonardo wie auch andere Maler seiner Zeit dutzende Leichen. Anders als sie wollte er jedoch nicht nur Knochengerüst und Muskulatur inspizieren, um plastischer zu zeichnen – Leonardo schaute tiefer. Er wollte wissen, wie der Körper funktioniert – wodurch statt der Kunst die Medizin in den Vordergrund rückte. Stefan Klein schaut ihm bei seinen Arbeiten über die Schulter.
Über die Geschlechtsorgane und ihren Gebrauch bemerkte Leonardo übrigens: "Der Vorgang der Zeugung und die Glieder, die dabei gebraucht werden, sind so abstoßend hässlich, dass die Natur die menschliche Spezies verlieren würde, wenn nicht die Gesichter, der Schmuck der Akteure und ihr fiebernder Geist etwas Schönes an sich hätten."
Ungleich größeren ästhetischen Reiz muss für ihn das Wasser gehabt haben, denn in vielen seiner Zeichnungen setzte sich Leonardo mit dessen Eigenschaften auseinander. Er erkannte die Wirkungen der Oberflächenspannung und des Drucks und übte sich in seiner eigenen Strömungslehre. Seine Erkenntnisse hielt er nicht in Worten oder Formeln fest, sondern stets in Bildern. Tatsächlich hatte er nie eine höhere Schule besucht und scheiterte an den einfachsten Rechenaufgaben.
Klein ist fasziniert von Leonardos unglaublich genauer Beobachtungsgabe. Zahlreiche Grafiken und Farbtafeln lassen den Leser diese Faszination teilen.
Ebenso eindrucksvoll hielt Leonardo auch Gedanken fest, die uns heute schaudern lassen. Auf hunderten Seiten entwarf er grausige Kriegsmaschinen: riesige Armbrüste, Schnellfeuergewehre oder etwa einen Sichelwagen, der "ein Feld von abgeschnittenen Beinen und zerstückelten Leibern" zurücklässt. Gleichwohl bezeichnete er den Krieg selbst einmal als "bestialischen Irrsinn" und scheint auch sonst jedes Leben wertgeschätzt zu haben. Wenn man bedenkt, dass er in einer der blutigsten Epochen Italiens lebte, seien Leonardos ethische Bedenken das eigentlich Überraschende, kommentiert Klein.
In Florenz, der Heimatstadt des Künstlers, fahndete der Autor nach dem "Traum vom Fliegen", dem Leonardo viele Jahrzehnte lang anhing. Er studierte den Flug von Raubvögeln und Fliegen, suchte nach aerodynamischen Profilen und konstruierte schließlich Flugmaschinen. Ob er sie je gebaut oder gar geflogen hat, geht aus seinen Aufzeichnungen leider nicht eindeutig hervor. Nachbauten jedenfalls legen den Schluss nahe, dass die Entwürfe untauglich waren und ihr Schöpfer das Prinzip des Fliegens nie ganz verstand.
Erfolgreicher baute Leonardo Maschinen. Selbstständig bearbeiteten diese zum Beispiel Wollstoffe oder hämmerten an Feilen. Sogar die erste Digitaluhr wird dem Ingenieur aus dem Dorf Vinci bei Florenz zugeschrieben, darüber hinaus allerlei andere technische Errungenschaften, vom Hubschrauber bis zum Bratenwender. Stefan Klein beleuchtet diesen Geniekult kritisch, denn ob und wie viel Leonardo von anderen kopiert hat, bleibt unklar. Ein geregeltes Publikationswesen gab es in der Renaissance noch nicht. Und während wir Leonardos Manuskripte kennen, sind die seiner Vorgänger vielleicht in Vergessenheit geraten. "So pries man in Leonardo den Erfindergeist eines ganzen Jahrhunderts", meint der Autor.
Zweifelsohne war er jedoch der Erste, der die Ingenieurskunst wissenschaftlich betrieb. Leider fehlte es in Leonardos Forschungen oft an Systematik, keiner seiner Gedanken füllte mehr als eine Seite. Entsprechend gehen seine Arbeiten selten über eine lose Sammlung von Manuskripten hinaus. Er selbst schob das auf Zeitmangel – ständig lockte ein neues Terrain, das untersucht werden wollte. Aber gerade diese sprunghafte Arbeitsweise machte vermutlich Leonardos Erfolg aus.
Dem ehemaligen "Spiegel"-Redakteur und erfolgreichen Sachbuchautor Stefan Klein ist eine erfrischend unkonventionelle Leonardo-Biografie gelungen. Das Buch ist durchweg leicht verständlich und liest sich wie ein spannender Roman. Man hört ihm einfach gerne zu, wenn er voller Faszination auf den Spuren des Meisters wandelt. Die Fakten rund um Leonardos Schaffen, Denken und Epoche wirken gut recherchiert; Zitate von Historikern, Zeitgenossen und nicht zuletzt vom Protagonisten selbst runden dieses Bild ab. Im Anhang erwarten den Leser eine detaillierte Zeittafel sowie Anmerkungen, Literatur- und Abbildungsverzeichnis auf mehr als 60 Seiten.
Die letzte bekannte Aufzeichnung von Leonardo endet mit den Worten "Denn die Suppe wird kalt". Ob Geheimbotschaft oder profane Realität, wird ein Rätsel bleiben.
Stefan Klein hat sich auf die Suche nach Antworten gemacht – nicht in Legenden und Anekdoten, sondern in Leonardos Aufzeichnungen. Immerhin sind noch 21 Gemälde sowie rund 100 000 Zeichnungen und Skizzen von ihm erhalten. Heute sind seine Werke in Bibliotheken, Privatarchiven und Museen auf der gesamten Welt verstreut.
"Es will keine Künstlerbiografie sein, die von außen einen Blick auf das Leben des Meisters zu werfen versucht", schreibt der promovierte Biophysiker im Vorwort. "Vielmehr geht es darum, einen der ungewöhnlichsten Menschen, den es je gab, gleichsam von innen her kennen zu lernen – und die Welt durch seine Augen zu sehen." Erste Station seiner Recherchereise ist das berühmteste Gemälde der Welt. Hunderte andere sind an diesem Tag mit demselben Ziel in den Louvre geströmt, wie Klein amüsant zu schildern weiß. Etwa indem er von den in breitem Fränkisch murmelnden Besuchern hinter ihm erzählt, die das Museum für "sehr gut organisiert" halten.
Was macht dieses Gemälde "einer durchschnittlich attraktiven Florentiner Hausfrau" so berühmt? Leonardos Manuskripte verraten, dass er sich ausgiebig mit der Wirkung von Gesichtern auf den Betrachter befasste. Auf unzähligen Skizzen probte er die unterschiedlichsten Mimiken, auf anderen untersuchte er, wie die Helligkeit vom Beleuchtungswinkel abhängt; eine Glasschüssel diente ihm anscheinend als Modell des menschlichen Auges. "In manchen Augenblicken kam es mir so vor, als könnte ich mit ihrem Schöpfer Zwiesprache halten", berichtet Klein über seine Stippvisite in der privaten Bibliothek der englischen Königin auf Schloss Windsor, wo ein großer Teil der Skizzen lagert.
Um zu verstehen, wie ein Gesichtsausdruck zu Stande kommt, sezierte Leonardo wie auch andere Maler seiner Zeit dutzende Leichen. Anders als sie wollte er jedoch nicht nur Knochengerüst und Muskulatur inspizieren, um plastischer zu zeichnen – Leonardo schaute tiefer. Er wollte wissen, wie der Körper funktioniert – wodurch statt der Kunst die Medizin in den Vordergrund rückte. Stefan Klein schaut ihm bei seinen Arbeiten über die Schulter.
Über die Geschlechtsorgane und ihren Gebrauch bemerkte Leonardo übrigens: "Der Vorgang der Zeugung und die Glieder, die dabei gebraucht werden, sind so abstoßend hässlich, dass die Natur die menschliche Spezies verlieren würde, wenn nicht die Gesichter, der Schmuck der Akteure und ihr fiebernder Geist etwas Schönes an sich hätten."
Ungleich größeren ästhetischen Reiz muss für ihn das Wasser gehabt haben, denn in vielen seiner Zeichnungen setzte sich Leonardo mit dessen Eigenschaften auseinander. Er erkannte die Wirkungen der Oberflächenspannung und des Drucks und übte sich in seiner eigenen Strömungslehre. Seine Erkenntnisse hielt er nicht in Worten oder Formeln fest, sondern stets in Bildern. Tatsächlich hatte er nie eine höhere Schule besucht und scheiterte an den einfachsten Rechenaufgaben.
Klein ist fasziniert von Leonardos unglaublich genauer Beobachtungsgabe. Zahlreiche Grafiken und Farbtafeln lassen den Leser diese Faszination teilen.
Ebenso eindrucksvoll hielt Leonardo auch Gedanken fest, die uns heute schaudern lassen. Auf hunderten Seiten entwarf er grausige Kriegsmaschinen: riesige Armbrüste, Schnellfeuergewehre oder etwa einen Sichelwagen, der "ein Feld von abgeschnittenen Beinen und zerstückelten Leibern" zurücklässt. Gleichwohl bezeichnete er den Krieg selbst einmal als "bestialischen Irrsinn" und scheint auch sonst jedes Leben wertgeschätzt zu haben. Wenn man bedenkt, dass er in einer der blutigsten Epochen Italiens lebte, seien Leonardos ethische Bedenken das eigentlich Überraschende, kommentiert Klein.
In Florenz, der Heimatstadt des Künstlers, fahndete der Autor nach dem "Traum vom Fliegen", dem Leonardo viele Jahrzehnte lang anhing. Er studierte den Flug von Raubvögeln und Fliegen, suchte nach aerodynamischen Profilen und konstruierte schließlich Flugmaschinen. Ob er sie je gebaut oder gar geflogen hat, geht aus seinen Aufzeichnungen leider nicht eindeutig hervor. Nachbauten jedenfalls legen den Schluss nahe, dass die Entwürfe untauglich waren und ihr Schöpfer das Prinzip des Fliegens nie ganz verstand.
Erfolgreicher baute Leonardo Maschinen. Selbstständig bearbeiteten diese zum Beispiel Wollstoffe oder hämmerten an Feilen. Sogar die erste Digitaluhr wird dem Ingenieur aus dem Dorf Vinci bei Florenz zugeschrieben, darüber hinaus allerlei andere technische Errungenschaften, vom Hubschrauber bis zum Bratenwender. Stefan Klein beleuchtet diesen Geniekult kritisch, denn ob und wie viel Leonardo von anderen kopiert hat, bleibt unklar. Ein geregeltes Publikationswesen gab es in der Renaissance noch nicht. Und während wir Leonardos Manuskripte kennen, sind die seiner Vorgänger vielleicht in Vergessenheit geraten. "So pries man in Leonardo den Erfindergeist eines ganzen Jahrhunderts", meint der Autor.
Zweifelsohne war er jedoch der Erste, der die Ingenieurskunst wissenschaftlich betrieb. Leider fehlte es in Leonardos Forschungen oft an Systematik, keiner seiner Gedanken füllte mehr als eine Seite. Entsprechend gehen seine Arbeiten selten über eine lose Sammlung von Manuskripten hinaus. Er selbst schob das auf Zeitmangel – ständig lockte ein neues Terrain, das untersucht werden wollte. Aber gerade diese sprunghafte Arbeitsweise machte vermutlich Leonardos Erfolg aus.
Dem ehemaligen "Spiegel"-Redakteur und erfolgreichen Sachbuchautor Stefan Klein ist eine erfrischend unkonventionelle Leonardo-Biografie gelungen. Das Buch ist durchweg leicht verständlich und liest sich wie ein spannender Roman. Man hört ihm einfach gerne zu, wenn er voller Faszination auf den Spuren des Meisters wandelt. Die Fakten rund um Leonardos Schaffen, Denken und Epoche wirken gut recherchiert; Zitate von Historikern, Zeitgenossen und nicht zuletzt vom Protagonisten selbst runden dieses Bild ab. Im Anhang erwarten den Leser eine detaillierte Zeittafel sowie Anmerkungen, Literatur- und Abbildungsverzeichnis auf mehr als 60 Seiten.
Die letzte bekannte Aufzeichnung von Leonardo endet mit den Worten "Denn die Suppe wird kalt". Ob Geheimbotschaft oder profane Realität, wird ein Rätsel bleiben.
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