Neue Physik für Alle?
Das nach wie vor ungebrochene Interesse weiter Bevölkerungsschichten an kosmologischen Fragen ist nicht zuletzt einer Reihe von einschlägigen Büchern zu danken, die Steven Hawking in letzter Zeit – sehr breitenwirksam – veröffentlicht hat. Richard Panek fügt mit dem "4%-Universum" ein weiteres hinzu.
Die vier großen Teile mit je drei Kapiteln tragen teils seltsame Überschriften etwa wie: Ins Spiel kommen, Die Zahnfee zum zweiten, Der Fluch des Bambinos, Muss runterkommen und so weiter. Ein Bezug zum Inhalt erschließt sich dem Leser oft erst nach der Lektüre. Gleichsam zur Einstimmung beginnt das Buch mit einem historischen Rückblick über die Entwicklung der beobachtenden Astronomie, ausgehend von Galilei mit der ersten Nutzung des Fernrohrs, über Kepler mit den Planetengesetzen und Newton mit der theoretischen Deutung durch das Gravitationsgesetz bis zu Einsteins Vorstellungen zur Struktur von Raum und Zeit. Bis zur Entdeckung der Drei-Kelvin-Hintergrundstrahlung im Jahr 1964 war – nach Panek – die Kosmologie "eine Art Metaphysik, mehr Philosophie als Physik", Tummelplatz für Astronomen, die alt und schwach werden.
Die Messungen von Edwin Hubble, zunächst am Andromedanebel M 31, ermöglicht durch die amerikanischen Großteleskope auf dem Mount Wilson, später Mount Palomar, führten zur Entdeckung der Expansion und der großräumigen Beobachtung von Homogenität und Isotropie. Es gibt nämlich zu der Zeit bereits erste Hinweise, dass die Masse gewöhnlicher Galaxien unterschätzt wird, möglicherweise um einen Faktor 10. Im weiteren Verlauf wird der Einfluss der Materie auf die Expansion und die Raumstruktur untersucht: Reicht die Masse aus, um die Expansion umzukehren (endlicher Raum), ist zu wenig Materie vorhanden (unendlicher Raum), gibt es gerade genug Masse, um die Expansion irgendwann zum Stillstand zu bringen (der Raum ist flach, euklidisch und unendlich).
Antwort auf diese Fragen wird von entfernten Supernovae als Entfernungs-Indikatoren erwartet. Inwieweit eignen sich Supernovae aber als zuverlässige Standardkerzen? Es gibt große Probleme, etwa Staub, auf dem Weg zur Lichtmessung auf der Erde. Gerade zum Erkennen der Veränderlichkeit der Expansionsrate (Stichwort: Verzögerungs-Parameter) sind diese Entfernungen aber wesentlich. In epischer Breite widmet sich der Autor in diesem Buch – nicht ganz zu unrecht – dem Supernova-Problem: Das technische Vorgehen dabei, involvierte Orte und Teleskope, werden dem Leser nahe gebracht. Aber auch die dabei konkurrierenden und rivalisierenden Forschergruppen – das High-z-Team auf dem Cerro Tololo und das LBL-Team in Berkeley. Als einziges europäisches Land nimmt Dänemark daran teil. Erstmals sind "Hubble-Deep-Field"-Beobachtungen wichtig. Prioritätsansprüche sind nicht zum ersten Mal Motor der Anstrengungen. Vom Astrophysiker Kirshner stammt die menschlich verständliche Aussage: Der Neid, nicht die Gravitation, ist die stärkste Kraft im Universum.
Im dritten und vierten Teil mit den Abschnitten sieben bis zwölf geht es um das Tauziehen: Überwiegt der Einfluss der Dunklen Energie die Dunkle Materie? Und letztlich die Entscheidung: Ist das Universum flach und offen? Inflation plus Urknall könnten das Dilemma möglicherweise lösen. Materie aber unbekannt – wie sieht man auch etwas, das dunkel ist? Der Frust einer Forschergeneration gipfelt im Ausruf: "Es ödet einen an, nach Teilchen zu suchen, die da sein können, oder auch nicht – und immer ein negatives Ergebnis zu erhalten."
Am Südpol-Teleskop laufen weiter Experimente zum Nachweis der Dunklen Materie. Sie scheint – nach Simon White – ein Bindeglied zwischen Astronomen und Teilchenphysikern zu sein. Bemerkenswert ist am Ende des Buchs eine nahezu endlose Liste für mögliche Kandidaten der Dunklen Energie – beeindruckend, mehr als eine halbe Textseite!
Es gibt noch einen Epilog, in dem aktuelle, unser Universum für Anfang 2010 definierende Zahlen angeboten werden: Alter 13,75 Milliarden Jahre; Hubble-Konstante 70,4; Struktur: flach, euklidisch; Inhalt: 72,8 Prozent Dunkle Energie; 22,7 Prozent Dunkle Materie; 4,56 Prozent baryonische Materie (das, was wir bisher sehen). Man spürt förmlich: der Autor ist Insider, er weiß alles und möchte auch alles weitergeben. Und genau daran setzt meine Kritik an. Weniger an Information – eine alte Weisheit – wäre oft mehr.
Der Text ist förmlich überfrachtet von hunderten von Namen, zahllosen Schauplätzen überwiegend in den USA, Konferenzberichten, persönlichen Schicksalen der Forscher in den rivalisierenden Teams. Dem Leser fällt die Orientierung der kontroversen Meinungen von Doktoranden, Postdoktoranden, etablierten Wissenschaftlern häufig schwer. Oft läuft man beim Lesen Gefahr, den roten Faden zu verlieren. Weitere Kritik: Die zwölf Abschnitte (mittlere Länge: 25 Seiten) bieten keinerlei Unterteilung, etwa mit prägnanten Überschriften oder kurzen Resumees am Ende. Dazu kommt das Fehlen jeglicher Abbildungen. In der Summe wirkt die Lektüre des Buchs – trotz des spannenden, kompetent dargestellten und aktuellen Themas – für den Leser leider ermüdend.
Ein beträchtlicher Teil des Umfangs führt im Anhang eine Namensliste mit 562 Einträgen auf. Die einzelnen Namen sind im Text meist mehrfach und hier immer wieder notiert. Außer wenigen im Fettdruck hervorgehobenen Namen der Interview-Partner des Autors gibt es keinerlei weitere Information. Also 20 völlig unergiebige, überflüssige Seiten im Buch! Obligatorisch endet der Anhang mit einem sehr detaillierten Literaturverzeichnis und einem Stichwortverzeichnis.
Manche etwas merkwürdige Ausdrücke sind wohl der Übersetzung geschuldet. Ein sachlicher Fehler ist mir aber schon aufgefallen: Das "New-Technology-Telescope" auf La Silla hat 3,58 Meter Öffnung (nicht: zehn Meter, wie im Text auf S. 128 erwähnt). Außerdem: Auf S.240 sind zwölf Nullen zu viel abgedruckt. Wer bereit ist, tiefer in Fragen der Kosmologie und Kosmogonie einzudringen und sich auch vor vielleicht auf den ersten Blick überflüssigen und ermüdenden Detaildarstellungen nicht scheut, wird das Buch sicher mit Gewinn lesen.
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