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Perelman und die Vorgeschichte

Wenn eine mathematische Großtat geschieht, hält sich das öffentliche Aufsehen gewöhnlich in Grenzen. Beim Beweis der Poincaré-Vermutung war dies anders – allerdings nicht wegen der Mathematik, sondern wegen der Person des Vollbringers. Gregori Perelman (geboren 1966), zu Hause in St. Petersburg, lehnte nicht nur alle attraktiven Angebote an bestbezahlten Professuren ab. Er verweigerte auch die Annahme der Fieldsmedaille, der dem Nobelpreis vergleichbaren Auszeichnung für junge Mathematiker, und verzichtete gar auf eine Million Dollar Preisgeld, welches ihm die Clay Institution auf Antrag für seine Leistung zweifellos ausbezahlen würde (Spektrum der Wissenschaft 10/2006, Seite 108).

Man weiß nicht viel über diesen Menschen, der die Öffentlichkeit scheut und seine Arbeiten der Anonymität des Internets anvertraut. Eines jedenfalls scheint er nicht zu sein: ein politischer Überzeugungstäter. Seine radikale Verweigerung dem Establishment gegenüber ist anders motiviert als jene von Alexander Grothendieck, dem gleichfalls genialen Mathematiker, der in diesem Jahr 80 geworden ist. Während Grothendieck seine Popularität als Fieldsmedaillenträger nutzte, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren, und seine Stellung am elitären IHES (Institut des Hautes Études Scientifiques) aufgab, als er erkannte, dass dieses partiell von der Nato finanziert wurde, beruht Perelmans Verweigerung wohl eher auf einer tiefen Enttäuschung über die seiner Ansicht nach unzulängliche Welt der Mathematiker.

Auch das Buch von George G. Szpiro, dem Autor der Mathematikkolumne in der "Neuen Zürcher Zeitung" (Spektrum der Wissenschaft 1/2007, Seite 110), muss sich hier weit gehend auf Vermutungen beschränken. Insgesamt aber fällt es durch Wohlinformiertheit angenehm auf.

Ist jede einfach zusammenhängende geschlossene 3-Mannigfaltigkeit homöomorph zur Sphäre? Mit dieser Frage beschloss Henri Poincaré (1854 – 1912) eine Serie von Arbeiten, die sich von ersten Andeutungen im Jahr 1892 bis 1904 hinzog und ihren Autor zum Schöpfer einer neuen Disziplin machte: Was wir heute "algebraische Topologie" nennen, stieg im 20. Jahrhundert zu einer Leitdisziplin der reinen Mathematik auf.

In den 1960er Jahren fand die Topologie im Rahmen der "Neuen Mathematik" breite Beachtung. Viele Autoren machten sich auf, sie dem Laien und auch dem Grundschüler in Form der "Gummituchmathematik" zu erklären. Von dieser Metapher macht auch Szpiro ausgiebig Gebrauch, denn sein Buch möchte dem Leser ohne Formeln – bis auf zwei Ausnahmen – und ohne Abbildungen hochabstrakte Mathematik nahebringen. In der Tat geben seine Gummibänder und Fallschirme dem Leser einen gewissen Eindruck von der Materie – durchaus im Sinn Poincarés, der sich schon selbst daran versuchte, die Topologie dem Laien zu erklären, weil er ihr einen erkenntnistheoretischen Wert zuerkannte.

Merkwürdigerweise ist durchaus zweifelhaft, ob Poincaré die poincarésche Vermutung wirklich vermutet hat. Im Gegensatz zu dem Stil heutiger mathematischer Abhandlungen schrieb er seine Erkenntnisse ungefähr so nieder, wie sie ihm zufielen; und das taten sie reichlich. Seine Texte ähneln Selbstgesprächen, und die – häufigen – Fragen markieren nichts weiter als Punkte, an denen weitergedacht werden muss. Ob Poincaré zu der Überzeugung gekommen war, die Antwort auf seine Frage sei "Ja", ist unklar.

Szpiro zeichnet das Bild, das man von dem Mathematiker, Physiker und Philosophen Poincaré kennt – ein weltabgewandter, aber netter Mensch, der sich wenig in die Angelegenheiten seiner Zeit einmischte. Dieser Mythos geht nicht zuletzt auf die Lebensbeschreibung seiner ihn verehrenden Schwester Aline zurück und bedarf gewisser Relativierungen. Szpiro hebt hervor – und das ist verdienstvoll –, dass Poincaré durch sein Ingenieurstudium an der Pariser École Polytechnique und an der École des Mines geprägt war und von dort unter anderem ein tiefes Interesse für Fragen des Bergbaus mitgenommen hat. Natürlich darf auch der Cousin nicht fehlen, Raymond Poincaré, der spätere Präsident der Französischen Republik.

Die einschlägige Literatur wird etwas stiefmütterlich behandelt; so verschweigt Szpiro Peter Galisons Buch "Poincarés Karten, Einsteins Uhren" (Spektrum der Wissenschaft 6/2004, Seite 98), das Poincarés Studienzeit ausgiebig und profund beschreibt, und Moritz Epples Standardwerk "Die Entstehung der Knotentheorie". Sehr umfassend ist dagegen die Bibliografie zu den mathematischen Originalarbeiten zur Poincaré-Vermutung, insbesondere zu den gescheiterten Beweisversuchen.

Viel Beachtung schenkt der Autor der spektakulären Affäre (1889/90) um den Preis König Oscars II. von Norwegen, der Poincaré für einen fehlerhaften Beitrag zum Dreikörperproblem zugesprochen wurde (Spektrum der Wissenschaft 1/1997, Seite 24). In einer verdeckten Aktion wurden die bereits ausgelieferten Exemplare der fraglichen Abhandlung zurückgeholt und durch eine korrigierte Version ersetzt – Stoff für einen Krimi, wenn auch nicht allzu relevant für den Rest des Buchs.

Es folgt ein Überblick zur Geschichte der "Analysis situs", so die frühere Bezeichnung der Topologie, und ihrer wichtigsten Ideen. Indem der Autor geschickt Sachliches wie das Möbius-Band mit Persönlichem, in diesem Fall Leben und Werk von August Ferdinand Möbius (1790 – 1868), verbindet, werden seine Ausführungen interessant und abwechslungsreich. Immer wieder scheint die menschliche Dimension des Unternehmens Mathematik durch.

Viel Raum widmet Szpiro den Beweisversuchen für die Poincaré-Vermutung, beginnend mit John H. C. Whitehead (1904 – 1960) in den 1930er Jahren und endend mit Valentin Poénaru und Richard Hamilton in den 1990ern. Auch hier erfährt man vieles, zum Teil wenig Bekanntes über die Protagonisten dieser Geschichte. Einige Einzelheiten fehlen: Herbert Seifert (1907 – 1996) konnte 1932 die Poincaré-Vermutung für eine eingeschränkte Klasse von Fällen bestätigen und lieferte damit das erste positive Resultat in diesem Zusammenhang. Der mutige Kollege, der Max Dehn (1878 – 1952) und seine Frau vor der Verfolgung durch das Nazi- Regime versteckte (Seite 119), hätte gewiss eine namentliche Erwähnung verdient: Es war der spätere Frankfurter Astronomiehistoriker Willy Hartner (1905 – 1981).

Schließlich kommt der Autor ausführlich auf den zweiten Helden Grigori Perelman zu sprechen; dabei unternimmt er es, dessen Ideen zumindest in Ansätzen dem Leser verständlich zu machen – mit Erfolg. Insgesamt dominiert natürlich die Story des Menschen Perelman, der als Mathematiker in den USA Furore machte, um dann mit seinem Ersparten in Russland unterzutauchen. Deutlich wird auch, wie schwierig es war, seine Leistung zu prüfen. Nicht noch einmal sollte, wie rund 20 Jahre zuvor, ein falscher Beweis irrtümlich in den Mittelpunkt des Interesses geraten; um das zu vermeiden, hat die mathematische Welt spezielle Mechanismen entwickelt. Dies liefert ein farbiges und eindrucksvolles Bild von der Tätigkeit des Mathematikers, wenn auch mehr von den bunten Feiertagen denn vom grauen Alltag dieser Berufsgruppe. Die Highlights tauchen den Rest ein wenig ins Dunkle, aber das lässt sich bei dem Thema nicht vermeiden.

Die Übersetzung lässt gelegentlich zu wünschen übrig, was ein sachkundiges Lektorat sicher leicht verhindert hätte. Schade finde ich, dass es in diesem Buch keine Abbildungen gibt.

Insgesamt ist es Szpiro gelungen, schwierige Mathematik und ihre Geschichte allgemein verständlich in sehr lesenswerter und spannender Form darzustellen.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 12/08

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