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Die Jagd auf den König

Fast jeder zweite Leser dieser Zeilen wird im Lauf seines Lebens an Krebs erkranken, jeder vierte daran sterben. Nicht ohne Grund wird die Diagnose "Krebs" gefürchtet wie kaum eine andere, da sie oft eine qualvolle Behandlung und einen schmerzvollen Tod nach sich zieht. Dabei macht die Krebsmedizin ständig Fortschritte. Während Krebs noch Mitte des vergangenen Jahrhunderts meist eine Krankheit ohne Heilungschancen war, liegen diese mittlerweile bei fast 50 Prozent.

In seinem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Buch über den "König aller Krankheiten" zeichnet der Krebsmediziner Siddhartha Mukherjee die Geschichte des Kampfs gegen die heimtückische Krankheit nach. Gleich die erste bekannte Erwähnung einer Krebserkrankung gibt den Stand der Therapie bis in die Neuzeit wieder. In einem ägyptischen Papyrus aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert steht zur Frage der Behandlung lapidar: "Es gibt keine."

Die moderne Geschichte der medizinischen Krebstherapie beginnt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Während Krebspatienten zuvor oft nur palliativ behandelt wurden, gab es zu dieser Zeit erste Hoffnungsschimmer, dass es vielleicht wirksame Mittel gegen die Krankheit geben könnte. Die Entwicklung in der Chirurgie beschreibt Mukherjee am Beispiel der radikalen Schule des amerikanischen Arztes William Stewart Halsted. Um den Krebs mitsamt all seinen Wurzeln auszumerzen, entfernte er neben dem primären Tumor auch immer größere Teile des umgebenden Gewebes. Etwa zeitgleich entstand die Idee, Krebszellen mit speziellen chemischen Substanzen zu attackieren. Dieser Ansatz, bis heute als Chemotherapie bekannt, trieb besonders der Bostoner Forscher Sidney Farber voran, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit künstlichen Wirkstoffen erste Erfolge bei kindlicher Leukämie verbuchte.

In den folgenden Jahrzehnten erweiterte sich das Arsenal von Chemotherapeutika rasch. Wie Mukherjee erläutert, gründete deren Entwicklung jedoch nicht auf einem tieferen Verständnis der Krankheitsursachen. Vielmehr griffen Mediziner einfach auf überwiegend giftige Substanzen zurück, mit deren Hilfe sich Krebszellen nur etwas schneller zerstören ließen als die übrigen Körperzellen. Die Chemotherapeutika wurden in immer höheren Konzentrationen und immer aggressiveren Kombinationen verabreicht, was oft zu schrecklichen Nebenwirkun­gen führte. Obwohl sich bei einigen Krebsarten Erfolge zeigten, gelangten Forscher in den 1980er Jahren zunehmend zu der Einsicht, dass dieser Weg keine neuen durchschlagenden Erfolge versprach. Ähn­liches galt für die Chirurgie: Das Entfernen von immer mehr Gewebe um den Tumor herum brachte oft keinen zusätzlichen Nutzen.

Erst in den 1980er Jahren kam man mit krankhaft veränderten Genen den molekularen Ursachen von Tumoren auf die Spur. Doch diese Erkenntnisse wurden von der Mehrzahl der Krebsmediziner zunächst ignoriert, bis es die ersten wirkungsvollen Medikamente ermöglichten, diese veränderten Genprodukte gezielt anzugreifen. Im Detail zeigt Mukherjee, wie etwa das Medikament Glivec ein verändertes Protein ausschaltet und so die zuvor tödliche chronische myeloische Leukämie in eine Diagnose mit einer oft normalen Lebenserwartung verwandelt.

Neben der Therapie behandelt das Buch aber auch andere Aspekte des Kampfs gegen den Krebs. Schon zu Beginn würdigt der Autor die Leistungen unter anderem von Sidney Farber und Mary Lasker in der Lobbyarbeit für eine bessere ­finanzielle Unterstützung der Krebsforschung. Ein weiteres Kapitel widmet sich den Chancen der Vorbeugung am Beispiel des Rauchens. Das traurige Fazit lautet, dass der Kampf gegen den Krebs trotz aller neuen Erkenntnisse, präventiver Maßnahmen und Behandlungsmethoden nicht gewonnen ist und vielleicht auch nie ganz zu gewinnen sein wird.

Das Buch ist brillant geschrieben und liest sich fast wie ein Krimi. Der Autor schaut den Ärzten und Forschern bei ihrer Arbeit über die Schulter und lässt mit Schicksalen aus dem klinischen Alltag auch die menschliche Dimension nie vergessen. Der einzige kleine Kritikpunk: Die Leistungen von Wissenschaftlern außerhalb der USA erwähnt Mukherjee oft nur am Rande. Trotzdem eines der besten Wissenschaftsbücher der vergangenen Jahre.

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  • Quellen
Gehirn & Geist 5/2012

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