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Schiffbruch und Messerstecherei

Was mir heute mein GPS-Empfänger in Sekundenschnelle erzählt – wo auf der Erde ich gerade bin –, das herauszufinden war vor 350 Jahren noch äußerst mühsam. Paul Murdin, Astronom und langjähriger Mitarbeiter der Sternwarte Greenwich, erzählt von der schweißtreibenden Vermessung Europas im 17. und 18. Jahrhundert, die dafür die Grundlage schuf.

Der Anlass für das große Unternehmen war ziemlich banal. Angeblich zürnte der Finanzminister des Sonnenkönigs, Jean Baptiste Colbert (1619 – 1683), darüber, dass jegliches Kartenwerk ungenau und keineswegs geeignet war, die Regionen des Landes ihrer realen Größe nach zu besteuern. Die frisch gegründete französische Akadamie der Wissenschaften beauftragte daher den Astronomen und Jesuiten Jean Picard (1620 – 1682), mit Hilfe der Triangulation das Land zu vermessen. Der Niederländer Willebrord Snellius (1580 – 1626) hatte zuvor diese neue Technik eingesetzt, bei der man ausgehend von einer einzigen Messstrecke nur durch Winkelmessungen ein Netz aus beliebig vielen Dreiecken über das Land legt.

Von Paris aus arbeitete sich Picard gleichermaßen nach Nord und Süd vor und schuf damit eine Referenzlinie für alle folgenden Vermesser. Dieser nicht erst seit dem Film "Sakrileg" weltberühmte Meridian zerteilt das Land ungefähr in der Mitte und verläuft exakt durch die Pariser Sternwarte.
Unabhängig von der Triangulation bestimmten Picard und seine Kollegen, namentlich Giovanni Domenico Cassini (1625 – 1712), Längen- und Breitengrade markanter Orte durch astronomische Messungen. Um beispielsweise den Längengrad von Brest zu bestimmen, muss man wissen, wann dort die Sonne ihren Höchststand erreicht. Da man aber die Uhrzeiten von Paris und Brest mangels genauer und transportabler Uhren nicht vergleichen konnte, mussten die Vermesser unabhängige astronomische Zeitgeber zu Hilfe nehmen, etwa die Bedeckung eines Jupitermonds durch den Planeten selbst. Zum Abgleich mit der lokalen Sonnenzeit mussten sie mit einer meterhohen Pendeluhr die Kirchtürme und Berggipfel besteigen, die ihnen als Triangulationspunkte dienten.

Cassini glaubte anhand seiner Triangulationen südlich von Paris belegen zu können, dass der Erdradius an den Polen größer sei als der am Äquator. Die Welt kreise somit wie ein aufrecht stehendes Ei um die Sonne. Der Physiker Jean-Jacques d’Ortous de Mairan (1687 – 1771) untermauerte dieses Bild sogar mit einer gewagten Theorie, welche die Erdanziehung mit dem Krümmungsradius der Oberfläche verknüpfte. Das stand in krassem Gegensatz zu Isaac Newton (1643 – 1727), der in seinen "Principia" aus dem von ihm entdeckten Gravitationsgesetz auch den (korrekten) Schluss gezogen hatte, dass die Erde an den Polen abgeplattet ist.

Da Mairan seine Theorie auf Ideen von René Descartes (1596 – 1650) gegründet hatte, geriet die philosophische Frage, ob die Gravitation eine Nahwirkung (Descartes) oder eine Fernwirkung (Newton) sei, zu einer Angelegenheit von nationaler Bedeutung. Zur abschließenden Klärung der Frage beschloss die Pariser Akademie daher, zwei Expeditionen zu entsenden, um die begrenzten Messergebnisse aus Frankreich mit aussagekräftigeren aus der Nähe von Nordpol und Äquator zu ergänzen.

Die Reisen von Picard und Cassini innerhalb Frankreichs waren bereits aufreibend. Noch weit mehr plagte sich die Lappland-Expedition mit sommerlichen Mückenschwärmen und unglaublichen Schneemassen im Winter. Eine zweite Forschergruppe arbeitete in Südamerika unter großer Hitze und kämpfte in den Anden gegen die Höhenkrankheit. Zuletzt wurde die Expedition beinahe zum Fiasko, als sich eine Menge von bewaffneten Einheimischen auf die Wissenschaftler stürzte.

Alle Strapazen sollten sich jedoch in mehrfacher Hinsicht auszahlen: Die Ergebnisse beider Expeditionen bewiesen, dass die Erde an den Polen abgeflacht ist. Der Schwede Anders Celsius (1701 – 1744) entwickelte nach der Lapplandreise die heute gebräuchliche Temperaturskala. Pierre Bouguer (1698 – 1758) entdeckte in Peru Regionen mit abnorm starkem Schwerefeld – die nach ihm benannte Bouguer-Anomalie. Und Newton gelangte zu der uneingeschränkten Autorität, die er bis heute innehat.

Es macht Spaß, dem Autor in die Welt der Vermesser zu folgen, denn "Die Kartenmacher" erzählt von richtigen Menschen, die lieben und leiden: mit Frauengeschichten im fernen Lappland oder lebenslangen Depressionen, ausgelöst durch ein ungenaues Messergebnis. Das Buch ist so verworren wie die reale Geschichte, springt zwischen Personen, Orten und den Wissenschaften Mathematik, Physik, Astronomie und Philosophie hin und her, welche die frühen Landvermesser allesamt beherrschen mussten. Murdin wagt manchmal etwas trockene Exkurse: in das Reich der Geometrie und die Funktionsweise von Theodoliten, Oktanten und Repetitionskreisen. Am Ende führt er jedoch alle Stränge wieder sauber zusammen.

Die aus heutiger Sicht primitive Messtechnik war im 17. Jahrhundert auf dem neuesten Stand – ganz so wie heute die Satellitennavigation, die im Buch nur ein bescheidenes Kapitel einnimmt. Sie folgt noch immer dem Prinzip Picards: der exakten Bestimmung von Strecken und Zeiten. Die Wissenschaftler legten damals den Grundstein für die Ausweitung des Welthandels, die Standardisierung der physikalischen Einheiten und die Einführung internationaler Zeitzonen und leisteten dadurch unerlässliche Vorarbeit für den rasanten technischen Fortschritt des 20. Jahrhunderts.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 9/2011

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