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Evolution geht auf die Knochen

Der schwere Panzer der langlebigen Galapagos-Schildkröte, das mächtige Geweih des Rothirsches, der schier endlose Hals der Giraffe oder die spitzen Zähne nimmersatter Piranhas – dem Erfindungsreichtum der Natur sind keine Grenzen gesetzt. Trotzdem sind bei Wirbeltieren gewisse Gemeinsamkeiten im Körperbau unverkennbar. Mit der Evolutionstheorie lieferte Charles Darwin schließlich das theoretische Grundgerüst für ihre gemeinsame Abstammung.

Skelette zeugen von den Ähnlichkeiten und Unterschieden der Lebewesen. Für sein Buch "Evolution“ ließ Jean-Baptiste de Panafieu – habilitierter Naturwissenschaftler und Regisseur für Dokumentarfilme – deshalb die Knochengerüste etlicher Tierarten aus verschiedenen französischen Museen vom Fotografen Patrick Gries in Szene setzen. Dabei herausgekommen ist ein faszinierendes Werk, das die Schaffenskraft der Natur in seiner schlichten Eleganz zur Geltung bringt. In klassischem Schwarz-Weiß gehalten, öffnen die gelungenen Aufnahmen den Blick für besondere Details: Faszinierend ist etwa der leere Blick des Mandrills. Oder die nachgestellte Jagd eines Leoparden auf eine flüchtende Mendesantilope kurz vor dem Zugriff – hier erscheinen die Tiere beinah zum Leben erweckt.

In Verbindung mit den anspruchsvollen Begleittexten liefern die insgesamt 300 Abbildungen Einblicke auf die Entwicklung des Lebens unserer Erde aus klassischer Perspektive. Denn bevor genetische Untersuchungen in der Evolutionsforschung Einzug hielten, ergründeten Wissenschaftler vor allem mittels anatomischer Vergleiche die Verwandtschaftsverhältnisse verschiedener Arten. Schon im Jahr 1753 interpretierte etwa Georges Louis Leclerc de Buffon den Vergleich des Skeletts von Mensch und Pferd wie folgt:

"Man nehme das Skelett des Menschen, biege die Knochen des Beckens, verkürze die Knochen der Oberschenkel, Unterschenkel und Arme, verlängere die der Füße und Hände, schweiße die Finger- und Zehenglieder zusammen, verlängere die Kiefer und verkürze dabei das Schienbein und verlängere schließlich das Rückgrat: Dieses Skelett wird nicht länger die sterbliche Hülle eines Menschen darstellen, sondern das Skelett eines Pferdes sein." Es versteht sich von selbst, dass Patrick Gries Mensch und Pferd entsprechend in Szene bringt. In dieser Einheit von Wort und Bild liegt die besondere Stärke dieses Buchs: Die von Panafieu beschriebenen anatomischen Details bringt Gries in seinen ästhetischen Knochenkabinetten gekonnt zur Geltung.

Jedes der sechs Kapitel beginnt mit einem allgemein gehaltenen Einleitungstext, auf dessen Grundlage im Folgenden ausgewählte Aspekte anhand markanter Beispiele aus der Tierwelt näher erläutert werden. Dabei schreckt Panafieu auch nicht davor zurück, die aktuellen Grenzen der Evolutionsforschung aufzuzeigen. Was ist etwa eine Art? Eine Frage, die eigentlich längst beantwortet sein sollte, bildet der Artenbegriff doch eine elementare Kategorie der Taxonomie. Tatsächlich ist Biologen bis heute noch keine allgemein gültige Definition geglückt. Selbst Charles Darwin musste passen: Obwohl sein Werk bekanntlich den Titel "Über die Entstehung der Arten" trägt, hatte auch er nicht präzise darlegen können, was genau eine Art ist: Es sei der Versuch, das Undefinierbare zu definieren, rechtfertigt sich der große Forscher.

Eins scheint jedoch sicher: "Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, wenn man es nicht unter dem Gesichtspunkt der Evolution betrachtet", wie der Biologe Theodosius Dobzhansky schloss. Und so lesen sich die Skelette wie der Bauplan der Natur – meisterhaft spinnen Panafieu und Gries daraus die Geschichte des Lebens.

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