Wir leben in einer Idylle und merken es nicht
Bei der Allgegenwart von Terror, Folter, Mord und Krieg in den Medien mag man die Hauptthese dieses Buchs kaum glauben: Steven Pinker, Psychologe an der Harvard University und bisher vor allem mit Büchern zur Sprachforschung bekanntgeworden (Spektrum der Wissenschaft 4/1998, S. 122, 5/1999, S. 150, und 2/2003, S. 91), behauptet, dass wir heute in der friedlichsten Epoche seit Menschengedenken leben und die Wahrscheinlichkeit, durch einen Gewaltakt zu sterben, so gering ist wie nie zuvor. Folter oder Sklaverei sind in vielen Staaten offiziell abgeschafft, Alltagsgewalt ist weit gehend aus der Öffentlichkeit verschwunden, und ihre Ausübung wird im Allgemeinen geächtet.
Pinker hat Ergebnisse aus den verschiedensten Disziplinen zusammengetragen, darunter Geschichts- und Sozialwissenschaften, Evolutionsbiologie, Kriminologie, Psychologie und Philosophie. Sein Gewaltbegriff ist, wie heute üblich, denkbar weit und schließt Mord, Körperverletzung, Diskriminierung und die subtile häusliche Gewalt ebenso ein wie Kriege, Terrorismus, Genozid, Sklaverei und Folter. Seine historischen Erläuterungen beziehen sich auf die unterschiedlichen Formen von Gewalt ebenso wie auf deren Wahrnehmung und Bewertung in Moral, Kunst und Alltag.
Nach der staatstheoretischen Idee, die der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588 – 1679) in seinem Werk "Leviathan" darlegte, zügeln erst Autorität, Gesetze und Herrschaft die natürliche Gewaltbereitschaft des Menschen. An die Stelle dieser drei alten Kräfte setzt Pinker vier neue: Vertrauen in die Macht des demokratischen Staates, Menschenrechte, Kapitalismus und die Verbreitung von Wissen durch Buchdruck und Internet.
Neben den historischen Zusammenhängen untersucht Pinker auch die biologischen und psychologischen Prozesse der menschlichen Aggression. Um seine These von der allgemeinen Abnahme der Gewalt zu belegen, vergleicht der Autor Opferzahlen aus verschiedenen Epochen miteinander. Ausführlich und gut verständlich legt er die Geschichte der Gewalt ebenso dar wie die ideologischen und politischen Hintergründe der jeweiligen Ära, von unseren tierischen Vorfahren bis zum aktuellen Tagesgeschehen.
Insgesamt bestätigen die Ergebnisse Pinkers These für die letzten Jahrhunderte. So ist etwa die Anzahl der Kriegstoten, gemessen an der jeweiligen Gesamtbevölkerung, stark gesunken, ebenso wie die allgemeine Mordrate oder die Anzahl der erfolgreichen Terroranschläge mit Todesopfern.
Eine derartig umfassende und interdisziplinäre Betrachtung des Phänomens Gewalt bringt Probleme mit sich. Die Auswahl der Quellen ist schwierig; das Buch erweckt vor allem bei den historischen Beispielen den Eindruck, der Autor habe sich zu Lasten der Friedensepochen auf die gewalttätigen Phasen konzentriert. Zahlen werden umso unzuverlässiger, je weiter man in der Vergangenheit zurückblickt. So gehen bereits die Schätzungen für die Opfer der Hexenverfolgung weit auseinander, und historisch-literarischen Quellen wie der Ilias oder der Bibel ist eigentlich kaum noch zu trauen.
Ebenso wie die Zahlen schwanken auch die Begrifflichkeiten. Die Definition zentraler Termini wie Gewalt, Mord oder Krieg leistet Pinker nicht selbst, sondern übernimmt sie aus der jeweiligen Quelle.
In seiner Darstellung konzentriert sich der Autor auffällig, aber nicht unerwartet, auf die USA, so als wolle er die spezielle Situation dort erklären. Dabei spart er nicht mit Kritik am System seines Landes. Auch bei den historischen Vergleichen stellt er gerne Europa und die USA einander gegenüber.
Philosophisch folgt er einigen sehr abendländisch geprägten Annahmen: Die Kultur entwickelt sich grundsätzlich zum Besseren, alle Gesellschaften sind im Prinzip miteinander vergleichbar. Wertesysteme, Staatsphilosophien oder Moralkodizes, die nicht einem christlich-abendländischen Hintergrund entspringen, behandelt er nur am Rande.
Alles in allem gelingt Pinker die umfassende Betrachtung eines extrem schwierigen Themas in seiner ganzen Tiefe. Er präsentiert eine große Materialfülle, ohne jedoch die wissenschaftliche Distanz und den moralischen Blick zu verlieren. Manchmal drängt sich eine naturwissenschaftlich-mathematische Betrachtungsweise zu sehr in den Vordergrund.
Ein faszinierendes und spannendes Buch, das zum Nachdenken und Diskutieren einlädt wie kaum ein anderes.
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