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Geburtshilfe für den Computer

Die Hirnforschung hat zu allerlei Fortschritten beigetragen, insbesondere in der Medizin. Offenbar verdanken wir ihr auch ein weit verbreitetes Arbeitsgerät, so die These der Informatikerin Katharina Schmidt-Brücken: Die Vorläufer unserer heutigen Computer entstanden unter anderem auf der Grundlage von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen des frühen 20. Jahrhunderts.

Die Autorin versetzt uns zunächst zurück in die anatomische und physiologische Forschung um das Jahr 1900. Damals wusste man noch nicht, dass das Gehirn aus einzelnen Nervenzellen besteht, dass sie miteinander über Kontaktstellen kommunizieren und an diesen so genannten Synapsen Erinnerungen gespeichert werden. Anfang des 20. Jahrhunderts beschreibt der spanische Mediziner und Nobelpreisträger Santiago Ramón y Cajal den neuroanatomischen Aufbau des Nervensystems: Es bestehe aus Zellen, die mittels Signalen in neuronalen Schaltkreisen miteinander kommunizieren.

Cajals Theorie belegte sein Schüler, der spanische Neurophysiologe Rafael Lorente de Nó, unter anderem anhand von Reflexbahnen, die bei Bewegungen des Kopfs das Bild auf unserer Netzhaut stabil halten. Mittels elementarer Schaltkreise erforschte Lorente de Nó sowohl die neuronale Signalübertragung als auch die Informationsspeicherung.

Er entwickelte dabei ein einfaches Konzept für einen neuronalen Schaltkreis, in dem durch "regenerative Zirkulation", der zufolge sich Nervenzellen in Kreisbahnen nacheinander aktivieren, die Aktivität auf lange Zeit erhalten bleibt. Diese Entdeckung, so zeigt Schmidt-Brücken, inspirierte den amerikanischen Physiologen Warren McCulloch und den österreichischen Mathematiker John von Neumann zu einem Speicherkonzept mit dem Namen "delay line", das auf dem Prinzip der regenerativen Zirkulation basiert und auch dem Bau der ersten Computer zu Grunde liegt.

Als von Neumann in den 1940er Jahren Speichereinheiten für die ersten digitalen Rechenmaschinen und Computer mitentwickelte, griff er auf jene einfachen Schaltkreise zurück, die Lorente de Nó etwa zeitgleich bei neuralen Strukturen nachwies. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts bildete auf diese Weise die so genannte regenerative Zirkulation das Kernprinzip des maschinellen Gedächtnisses.

Schmidt-Brücken verzichtet darauf, das historische Fachvokabular in die heutige Wissenschaftssprache zu übersetzen. Dadurch ist das Buch selbst für einen Neurobiologen nicht leicht zu verstehen. Doch mit diesem Stilmittel verdeutlicht sie auch, dass Neurowissenschaften und Kybernetik einst fließend ineinander übergingen – noch heute bedeutet zum Beispiel der englische Begriff "memory" sowohl Datenspeicher als auch Gedächtnis und Erinnerung. Darüber hinaus vermitteln die historischen Begriffe den Eindruck, man würde die Entdeckung der kybernetischen Schaltkreise direkt miterleben. Trotz der schwierigen Sprache kann dieser Einblick in die Wissenschaftsgeschichte sowohl Hirnforschern als auch Informatikern Freude bereiten.

  • Quellen
Gehirn und Geist 3/2013

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