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Auf Wiedersehen, George

Der 24. Juni 2012 war ein trauriger Tag für Naturschützer weltweit: Eine ihrer Ikone war gestorben – und das Ableben von der Galapagos-Riesenschildkröte Lonesome George machte international Schlagzeilen wie sonst nur der Tod eines berühmten Politikers oder Schauspielers. Denn mit dem einsamen Reptil verschied nicht nur die bekannteste Schildkröte der Welt, sondern wohl auch der letzte Vertreter seiner Art. Alle anderen Vertreter von Chelonoidis (nigra) abingdonii wurden schon vor Jahrzehnten von hungrigen Seefahrern abgeschlachtet oder wurden von eingeschleppten Ratten und Ziegen von ihrer Heimatinsel Pinta im Galapagos-Archipel verdrängt.

Im Laufe seines bewegten Lebens entging der "Einsame Georg" einigen Unglücken und manchem Attentat – einst wollten ihn sogar wütende Fischer meucheln, weil die ecuadorianische Regierung den lukrativen Fang von Seegurken im Nationalpark beschränken wollte. Vielleicht war dieser Stress schuld, dass sich der Schildkröterich bis zu seinem Ende auf keine fruchtbare Liaison mit Weibchen naher verwandter Galapagosschildkrötenarten (beziehungsweise -unterarten) einlassen konnte.

In seinem neuen Buch "Lonesome George" erzählt der Journalist und Biologe Lothar Frenz noch viele dieser tragischen Geschichten über das Aussterben der Arten – auch wenn der Tod von Lonesome George erst nach Redaktionsschluss eintrat. Unterteilt nach Kontinenten macht sich der Autor auf eine Reise in unsere Vergangenheit, in der wir Menschen häufig genug ein Massensterben unter den Tieren angerichtet haben. In Nordamerika gelang es "uns" beispielsweise, die Wandertaube im 19. und 20. Jahrhundert in wenigen Jahrzehnten auszurotten – obwohl sie damals der wohl häufigste Vogel der Welt war. Ihre Schwärme zählten Millionen Tiere, doch mit Schrot, Axt und Feuer metzelten Jäger sie für die Fleischmärkte der Städte effektiv nieder, bis nur noch eine Taube am Leben war: Martha, die schließlich am 1. September 1914 im Zoo von Cincinnati ihr Leben aushauchte. Nicht viel besser erging es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten den Eskimo-Brachvögeln oder dem Carolinasittich, und die Bisons überlebten nur knapp das Abschlachten.

Martha war aber nur eines der letzten Opfer in der langen Zeit des Aussterbens in Nordamerika, wie Frenz aufzeigt. Womöglich begann die Überjagung der dort lebenden Fauna bereits mit den ersten Zuwanderern, die während der letzten Eiszeit von Asien her in die Neue Welt übersiedelten: Mastodonten, Glyptodonten, Langhorn-Bisons, Riesenbiber Säbelzahnkatzen und andere Megafauna streiften damals durch die Weiten des noch unbesiedelten Kontinents, doch bald nach Ankunft der Jäger verschwanden sie komplett. Ob tatsächlich die Menschen dafür verantwortlich waren, die zügige Erwärmung der Erde nach Ende der Eiszeit oder eine Kombination aus beidem, bleibt noch rätselhaft. Wie Frenz aber bei seinen Abstechern nach Europa, Australien und Neuseeland zeigt, starben auch dort stets die größten Tierarten – Vögel wie Säuger oder Reptilien – aus, sobald der Mensch dort Fuß fasste.

Verschont vom Massenaussterben blieben vorerst nur Afrika und Asien – die Kontinente, in denen unsere Vorfahren entstanden oder sich schon sehr früh ausbreiteten. Ihre Tierwelt konnte sich im Laufe der Evolution also an den erfolgreichen Jäger mit seinen überlegenen Waffen anpassen und eine entsprechende Fluchtdistanz halten. Dementsprechend leben heute noch Elefanten, Büffel, Antilopen, Nashörner, Löwen und Tiger in den Savannen und Regenwälder beider Landmassen: die letzten Relikte der globalen Megafauna.

Erst als die Europäer mit der nächsten Generation an effektiven Waffen – Gewehren – beide Kontinente kolonialisierten, begann die nächste Welle des Massenaussterbens: verschiedene Unterarten des Tigers, der Blaubock, die Berberlöwen, die letzten Java-Nashörner des asiatischen Festlandes – sie wurden überwiegend im 20. Jahrhundert vernichtet. Wie bei der Wandertaube war Gier in vielen Fällen der Hauptfaktor: Die Tiere sollten Fleisch, Felle oder Trophäen liefern. Und manchmal waren sogar Museen für den Tod der letzten Exemplare einer Art verantwortlich, weil sie wie im Fall des nordatlantischen Riesenalks Angst hatten, in ihrer Sammlung könnte die Spezies fehlen. Um die Lücke zu füllen, ließen sie noch die überlebenden Individuen erschlagen.

Frenz sucht hier nicht nach Schuldigen: "Der weiße Mann" war am Verschwinden der Biodiversität ebenso beteiligt wie der angeblich so "edle Ureinwohner". Die prächtige Vogelwelt Hawaiis oder Neuseelands haben die Polynesier auf dem Gewissen, die Riesenbeuteltiere Australiens die Aborigines oder die Riesenlemuren Madagaskars die Madegassen – lange bevor Europäer einen Fuß in diese fernen Welten setzten.

Seitdem haben sich die Verluste allerdings keinesfalls an Zahl verringert oder die Geschwindigkeit des Artensterbens verlangsamt: Der Prozess hat sich verlagert und heute meist andere Ursachen. Früher, so Frenz, waren vor allem isolierte Inseln betroffen, heute greift das Aussterben zunehmend auf die Kontinente über. Überjagung spielt zwar noch eine Rolle, etwa für den Buschfleischhandel oder die Traditionelle Chinesische Medizin, doch dazu kommen eingeschleppte Arten wie Ratten oder Katzen, die kleine Beuteltiere oder Vögel tödlich dezimieren, Umweltverschmutzung, die rasante Zerstörung der natürlichen Lebensräume und mittlerweile der Klimawandel.

Alles in allem sehen die Zukunftsaussichten für die Natur also nicht rosig aus; zumal Frenz' Buch überwiegend wirklich nur vom Aussterben handelt. Erfolgsgeschichten wie der Kalifornische Kondor oder der Chatham-Trauerschnäpper (von dem zu Beginn der Rettungsmaßnahmen noch fünf Individuen und davon nur ein einziges Weibchen existierten) kommen leider nur am Rande vor. Verglichen mit der (wachsenden) Zahl der bedrohten Spezies wirken diese Rückkehrer wie Ausnahmen, ohne die engagierte Hilfe von Wissenschaftlern, Naturschützern und Zoos sähe es aber heute noch düsterer aus. Das hätte Lothar Frenz ruhig noch etwas stärker würdigen dürfen.

Insgesamt ist "Lonesome George" aber auf alle Fälle ein sehr gut geschriebenes, spannendes und lesenswertes Buch. Es entführt in eine Zeit, in der die Welt noch aufregender und abenteuerlicher war, als sie es heute noch ist. Und in Epochen, in denen noch ein Bestiarium auf Erden lebte, für das Touristen heute enormes Geld bezahlen würden, könnten sie diese Tiere noch irgendwo bewundern. Deshalb ist das Buch auch ein Ansporn für und Aufruf an uns alle, endlich dem Artensterben Einhalt zu gebieten. Denn wie langweilig wäre die Welt ohne wilde Elefanten, Wale oder Tiger, ohne Kakapo oder Osterbilby.

  • Quellen
Spektrum.de

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