Vom Korn der Götter zum Hühnerfutter
Eine alte Legende der Maya über den Ursprung der Menschen erzählt, dass die Götter zuerst Menschen aus Lehm erschaffen hätten. Aber der Lehm wurde nass und verwandelte sich wieder in Erde. Dann versuchten die Götter Menschen aus Holz und Binsen herzustellen. Aber den Holzmenschen mangelte es an Weisheit und so zerstörten die Götter diese Geschöpfe wieder. Erst im dritten Versuch, als sie Menschen aus Maisteig kneteten, erhielten sie ein vollkommenes Wesen, das dachte und sprach. Und da der Mais weiß, grau, blau, gelb, rosa, rot oder braun sein kann, entstanden Menschen mit verschiedenen Hautfarben. Diese Sage weist auf die immense Bedeutung hin, die der Mais bei den vielen Völkern Süd- und Mittelamerikas hatte. Die spanischen Eroberer brachten den Mais in die alte Welt und bereits im 16. Jahrhundert wurde diese Pflanze in Europa, Afrika und Asien angebaut. Aber im Laufe der Zeit wurde das Lebensmittel der präkolumbianischen Götter und Menschen Mittelamerikas zur Arme-Leute-Kost degradiert. Heute ist Mais das drittwichtigste Getreide nach Weizen und Reis. In den Industrieländern nimmt er sogar Platz zwei ein, allerdings werden die riesigen Maismengen bei uns zum Mästen von Rindern, Schweinen und Hühnern verwendet. Der Band „Mais. Geschichte und Nutzung einer Kulturpflanze“ diskutiert Fragen des kultischen Kontextes, der Agrarökologie und der Biodiversität. Die Texte dieses Sammelbandes entstammen einer Ringvorlesung, die vom Österreichischen Lateinamerika-Institut und dem Institut für Geschichte der Universität Wien im Wintersemester 2000/2001 durchgeführt wurde. Eigentlich könnte dies ein spannendes und hochinteressantes Buch sein, welches verschiedene Aspekte zu einem vielschichtigen Gesamtbild zusammenfügt. Aber die Schlampereien und Fehler in einigen Kapiteln frustrieren beim Lesen und irgendwann legt man das Buch entnervt zur Seite. Es beginnt mit den vielen spanischen Zitaten, die nur gelegentlich übersetzt werden. Für Leser, die des Spanischen nicht mächtig sind, wären Fußnoten mit Übersetzungen durchaus sinnvoll gewesen. Im ersten Kapitel schreibt die Historikerin Martina Kaller-Dietrich eine sehr kenntnisreiche Geschichte des Grundnahrungsmittels Mais. Aber warum muss die Autorin über Hybridzüchtung schreiben, wenn sie offensichtlich noch nie etwas von den Gesetzen Mendels gehört hat? Das Aufspalten der F2-Generation in die Eigenschaften der P-Generation ist keine Erfindung finsterer Genetiker. Man wünschte, die Autorin hätte das folgende — ausgezeichnete — Kapitel von Martin Röser über Biologie und Naturgeschichte des Mais gelesen. Noch schlimmer wird es, wenn es um Gentechnik geht: genetisch veränderter Mais, der Gene von Bacillus thuringensis (Bt-Mais) enthält, ist gegen Insektenbefall wie z. B. den Maiszünsler resistent. Bt-Mais ist nicht in der Lage, zweikeimblättriges Unkraut zu vernichten. Ärgerlich an einem Buch, welches sich der interdisziplinären Aufbereitung der Artikel rühmt, ist die schlampige Behandlung der Pflanzenwelt. Die wissenschaftlichen Namen der Gewächse sind zugegebenermaßen oft etwas sperrig, aber sie haben den unschätzbaren Vorteil gegenüber den volkstümlichen Bezeichnungen (Vernakulärnamen), eindeutig zu sein. Bei dem Artikel von Virginia Garcia Acosta über Mais und Weizen in prähispanischer und kolonialer Zeit würde man schon gerne wissen, welche Pflanzen sich hinter Stachelgurke, Ananaskirsche oder mexikanischem Weißdorn verbergen. Gab es im präkolumbianischen Mittelamerika wirklich Kirschbäume, Zwetschken oder Tamarinden? Da die botanischen Namen völlig fehlen, bleiben für den interessierten Leser die Ernährungsgewohnheiten der Azteken weiterhin ein Rätsel. Im Kapitel „Como agua para chocolate“ analysieren Gudrun Gusel und Corinna Milborn die kolonialen und indianischen Elemente der mexikanischen Küche anhand des gleichnamigen Romans von Laura Esquivel. Der Leser darf hier rätseln, was sich hinter Begriffen wie Faschiertes, Obers, Germ oder Fiesolen verbergen mag. Warum werden diese Ausdrücke nicht im Glossar kurz erläutert? Im Glossar immerhin finden sich gelegentlich die wissenschaftlichen Namen der erwähnten Pflanzen, allerdings konsequent falsch geschrieben. Und die dazugehörenden Informationen sind auch nicht immer auf dem neuesten Stand. So war Sorghum — vermuten wir mal, dass es sich um Sorghum bicolor, die Rispenhirse handelt — nicht nur „in Afrika regional bis ins 19. Jahrhundert die wichtigste Getreidepflanze“. Sie ist es auch heute noch. Und niemand muss heute noch die aus Kolonialzeiten stammende „Mohren- oder Kaffernhirse“ verwenden, denn im Gegensatz zu wissenschaftlichen Namen kann man die Vernakulärnamen von Pflanzen auch ändern. Insgesamt ein Buch bei dem man sich oft kopfschüttelnd fragt, was eigentlich die Aufgabe eines Herausgebers oder Lektors sein mag.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben