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Neandertal. Die Geschichte geht weiter

Nach Untersuchung dieses Gerippes, namentlich des Schädels, gehörte das menschliche Wesen zu dem Geschlecht der Flachköpfe, deren noch heute im amerikanischen Westen wohnen ... Vielleicht trägt dieser Fund zur Erörterung der Frage bei, ob diese Gerippe einem mitteleuropäischen Urvolke, oder bloss einer (mit Attila ?) streifenden Horde angehört haben." So schrieben lokale Zeitungen im September 1856, einen Monat, nachdem bei der Ausräumung einer Grotte im Neandertal nahe Düsseldorf Überreste eines merkwürdigen Skeletts geborgen und von dem Amateurpaläontologen Johann Carl Fuhlrott aus dem nahen Elberfeld für menschlich und sehr alt erklärt worden waren. Damit begannen die vielen – mehr oder weniger wissenschaftlichen – Versuche, die Fundstücke mit Leben zu erfüllen. Die Archäologen und Urgeschichtler Ralf W. Schmitz und Jürgen Thissen berichten nicht nur über den Fund, sondern vor allem über den Fundort, ursprünglich ein wildromantisches Durchbruchstal der Düssel, an dem sie selbst intensive Feld- und Laborforschungen betreiben. Das Tal erhielt seinen Namen nach dem barocken Kirchenliederdichter, der seinen Namen Neumann zu Neander gräzisierte. Ob er wirklich jemals dort war, bleibt ungewiss. Zur Zeit der Romantik gewannen das wilde Tal und seine Grotten einen Ruf als Festort der Düsseldorfer Maler. Freilich mussten diese bald der Industrialisierung weichen, weil die Talkalke nicht nur als Baumaterial, sondern in gewaltigen Mengen für die Hochofenverhüttung der nahen Eisenerze benötigt wurden. Nur weil der die Nutzung störende Lehm der Höhlen ausgeräumt wurde, kamen die in ihm eingebetteten Fossilien und damit auch der Neandertaler zu Tage. Fuhlrott fand mancherlei Unterstützung für seine frühe Datierung. Der Bonner Anatom Hermann Schaaffhausen publizierte den Fund 1858 und wies ihn dem Ausgang des Diluviums zu, dessen Datierung damals noch unsicher war. Zugleich erklärte er ihn für atavistischer als die "roheste" der heutigen Rassen; er sei zu jenen "Autochthonen" zu stellen, die von den neu einwandernden "Indogermanen" vorgefunden und verdrängt wurden. Andere sahen in dem Fund einen gefallenen Kosaken oder erklärten, wie der berühmte Pathologe Rudolf Virchow, die Form der Knochen mit einer rachitischen Erkrankung. Trotz großer Bedenken wegen der offensichtlichen Nähe zu den Schimpansen wies 1864 der irische Forscher William King den Fund der neuen Spezies Homo neanderthalensis zu. Allerdings klassifizierte er sie auch als "sittlich umnachtet", noch unter den "primitiven" zeitgenössischen Andamanen. Gleichwohl war damit etwas Unerhörtes geschehen: Die Gattung Mensch war erstmals in zwei Arten geteilt, den tumben Ureuropäer und seinen – bei großer kultureller Variationsbreite – intelligenteren Nachfolger, den modernen Menschen. Damit begann eine bis heute hitzig geführte Diskussion: Wie sind die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Menschengruppen? Es nahm der Auseinandersetzung kaum an Schärfe, dass inzwischen ältere, atavistischer wirkende Menschenarten, vom Ho-mo erectus bis zum Homo ergaster, gefunden wurden, die bis auf 1,8 Millionen Jahre datiert werden können. Derweil blieb weitgehend unbeachtet, was wir unterdessen durch zahlreiche neue Funde vom Leben und von den Leistungen der Neandertaler wissen: Sie lebten erfolgreich über einen Zeitraum von mindestens 150000, vielleicht 250000 Jahren im westlichen Eurasien. Sie sammelten und jagten Nieder- und Hochwild in den warmzeitlichen Auen und Steppen. Aber sie drangen auch in die eiszeitliche Strauchtundra vor, als diese sich vor 70000 bis 60000 Jahren bis in den Raum von Braunschweig ausbreitete. Selbst mit Stein- und Knochenspitzen bewehrte Jagdwaffen nutzten sie schon und legten bereits Gräber an. In der Ukraine kennen wir große von ihnen gebaute Hütten. Vermischung oder Verdrängung? Im westlichen Vorderasien tauchten bereits vor 80000 bis 60000 Jahren Menschenformen auf, die keine "typischen" Neandertaler sind. Sie werden wechselnd als Übergangsformen zum oder als Mischlinge mit dem modernen Menschen angesehen, von denen freilich dort kein einziger gefunden wurde. Das Problem wird in das fundarme Afrika verschoben, wo es zwar atavistische Zeitgenossen der Neandertaler, aber sie selbst tatsächlich nicht gibt. Dafür haben anscheinend besonders "typische" Neandertaler in den für sie günstigen relativ warmen Waldsteppenräumen des südlicheren Europas bis vor 35000 Jahren, vielleicht sogar noch länger überdauert und eigenständige materielle Ausstattungen hinterlassen. Ein Szenario, das sehr gut zu einer allmählichen Veränderung der beiden Arten passen würde. Aber selbst dort wird jene Schwelle erreicht, an der nach gerade einmal einem Jahrhundert kein Urenkel mehr das typische Neandertalergesicht des Urgroßvaters hat, sondern die dominant vererbten Züge der "modernen" Menschen. Und auch seine schweren Wurfspeere bauen sie nicht mehr. Ein Szenario, das Überschneidungen, Vermischungen und auch Wanderungsbewegungen über weit offene Grenzen hinweg nicht ausschließt. Demnach wären auch in uns selbst Teile des körperlichen und geistigen Erbes der Neandertaler erhalten geblieben. Dem widersprechen auch nicht die neuesten genetischen Ähnlichkeitsanalysen an Zellkernresten. Denn wie die Autoren detailreich und spannend berichten, liegen die Werte bei Knochenproben vom Originalfund immer noch im Streubereich moderner, mehr als 40000 bis 50000 Jahre jüngerer Vergleichsserien. Auch dies ist nicht überraschend, wenn man sich vergegenwärtigt, dass alle menschlichen Populationen über die Zeiten hinweg in einheitlicher Entwicklungstendenz ihre frontalen Hirnpartien ausgebaut und damit auch den Stirnbereich ständig aufgewölbt haben. Je nach den ökologischen Vorgaben, zu denen auch die Dichte der jeweiligen Populationen gehört, sind dabei unterschiedliche Beschleunigungen zu erwarten. Ganz andere Aspekte berühren die letzten Kapitel, in denen die Autoren ihre beharrlichen und beispielhaften feldarchäologischen Arbeiten darstellen. Dabei fanden sie tatsächlich nicht nur alte Höhlensedimente aus der Steinbruchzeit des Neandertals wieder, sondern neben Steingeräten aus Neandertalers Zeiten sogar ein Knochenfragment, das sich nach 143 Jahren zweifelsfrei an einen Oberschenkel des "Urfundes" von 1856 anpassen ließ. Die Grabungen vor Ort sind noch im Gange und werden unser Wissen über den Neandertaler und seine Zeit noch weiter mehren.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 01/01

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