"Schulden braucht man nicht zurückzuzahlen!"
Es kommt wie gerufen: ein Buch, das einem erklärt, warum es vielleicht keine moralische Pflicht sein muss, Schulden immer zurückzuzahlen. In Zeiten der Dauerfinanzkrise, in denen Zockerschulden übergroßer Banken gerne sozialisiert werden, mag das für manchen, der sich in den Klauen von Baukrediten und Zinslasten gefangen sieht, ein verlockender Gedanke sein.
Prophet der Frohbotschaft ist David Graeber, selbst ernannter Anarchist und Motor der weltweiten Occupy-Bewegung. Sein Buch liest sich über weite Strecken wie ein Krimi, was den Inhalten nur zugutekommt. Und seine These gibt zu denken: Die stillschweigende Gleichsetzung von "Schuld" im Sinn einer moralischen Verpflichtung mit der rein ökonomischen Pflicht, geliehenes Geld zurückzuerstatten, muss nicht immer gelten. »Die Dehnbarkeit des Begriffs ist zugleich die Grundlage seiner Macht«, sagt der Forscher.
Das Beispiel liefert der Anthropologieprofessor am Goldsmith College in London aus persönlicher Erfahrung. Als er einmal zwei Jahre im Hochland von Madagaskar verbrachte, hatte es dort kurz zuvor den ersten heftigen Malariaausbruch nach zwei Generationen der Ruhe gegeben. 10 000 Menschen starben, da inzwischen kaum noch einer von ihnen immun gegen die Seuche war. Das jahrelang betriebene Programm zur regelmäßigen Überwachung und Vernichtung der Moskitos hatte die Regierung gestrichen, da sie einem Sparprogramm des Internationalen Währungsfonds IWF unterstand.
"Es ging nicht um viel Geld", erinnert sich Graeber. "Nur damit die Citibank keinen unverantwortlichen Kredit abschreiben muss, der in der Bilanz sowieso nicht groß ins Gewicht fällt." Kein Wunder, dass er seitdem den IWF massiv kritisiert. Der sei "in der Hochfinanz das Äquivalent zu den Jungs, die kommen und einem die Beine brechen", wenn man seine Schulden nicht zurückzahle. Um ihre Schulden zu bedienen, sähen sich manche Staaten gezwungen, Leistungen wie die Subventionierung von Grundnahrungsmitteln zu streichen.
Das ist erschütternd und stützt natürlich die alte Forderung vom Schuldenverzicht bei den ärmsten der Entwicklungsländer. Aber Graeber holt viel weiter aus und stellt das Schuldenthema in den gesamtzivilisatorischen Zusammenhang. Auf über 400 Seiten zeigt er, wie Kredite von Anfang an – Geschichte des alten Mesopotamien, antiker Sklavenmärkte und Schuldkerker – die Entwicklung von Gesellschaften vorantrieben.
Seine These: Wir haben die Neigung, alle menschlichen Beziehungen auf Tausch zu reduzieren, so als könnten wir "unsere Verbindungen zur Gesellschaft oder sogar zum Kosmos in denselben Begriffen fassen wie ein Geschäft". Und so sieht Graeber generell Tauschgeschäfte "als eine Folge von Gewalt", mit der die Ansprüche durchgesetzt werden können. So, wie es für Schuld die Synonyme "Sünde" oder "Verfehlung" gebe, habe der Schuldner immer etwas von einem Kriminellen. Jede Form der Verpflichtung würde "durch Verbrechen und Vergeltung" aufrechterhalten – als Antrieb für Kriege, Sklaverei, Ehre, Schuld und Sühne. Das mag zwar ein arg pessimistisches Licht auf die Evolution von Gesellschaft und Zivilisation generell werfen, aber es ist schwer, sich dem Sog seiner Argumente zu entziehen.
Wer jedoch nicht durch die ganze Geschichte antiker Kulturen und des Mittelalters ziehen will und eher nach einer Analyse der gegenwärtigen Finanzkrise sucht, wird erst am Ende des Buchs bedient. Immerhin benennt Graeber dort ihre Ursache: die Entkopplung des Dollars vom Goldstandard. Erst dieser Schritt, der 1971 für Nixon womöglich wegen der Unsummen für den Vietnamkrieg unvermeidlich gewesen sei, habe die Real- und die virtuelle Geldwirtschaft katastrophenträchtig auseinandergetrieben.
Den großen Crash des Jahres 2008 sieht er als einen "Betrug", bei dem die Krise schon mit der Gewissheit geplant war, "dass die Opfer am Ende gezwungen sein würden, die Täter zu retten". Der Staat behandelte das imaginäre Geld der Investment-Banker, als wäre es real. Den Bankern wurde geholfen, aber verschuldete Hausbesitzer mussten ihr Heim verlassen.
Am Ende packt Graeber richtig aus und spart nicht mit Appellen und Beschimpfungen, so plausibel sie auch klingen mögen. Der heilige Grundsatz, dass Schulden zurückgezahlt werden müssten, sei nur "eine schamlose Lüge". Keineswegs müsse "jeder" alles zurückzahlen Das müssten nur einige von uns. Und so seien Schulden nichts "als eine Perversion eines Versprechens, das von Mathematik und Gewalt verfälscht wurde". Der Occupy-Aktivist fordert folgerichtig nichts weniger als den Umsturz: "Wir sollten alle reinen Tisch machen, unsere überkommene Moral über den Haufen werfen und einen Neuanfang wagen."
In dieser Plattheit wird das kaum jemanden dazu veranlassen, aktiv etwa gegen die herrschende Marktwirtschaft zu Felde zu ziehen – selbst Graebers Occupy- Bewegung verödet inzwischen mangels erkennbarer Ziele. Statt konkreter Vorschläge empfiehlt der Anthropologe einen generellen Schuldenerlass – sowohl für Staats- als auch für Konsumschulden. Aber nicht etwa als Reformprogramm, sondern weil es halt zeige, dass Schuldentilgung "nicht das Wesen der Sittlichkeit" darstelle.
Zweifellos ist dem Autor Recht in seiner Grundthese zu geben, wenn er die generelle Moralisierung von Schulden als verderblich ansieht. Was daraus folgt, wird aber auch am Ende dieses Buchs nicht so recht klar.
Sieht man von den schon traditionellen Untergangsszenarien für den Kapitalismus mal ab, so liegt die zerstörerische Wirkung der "gewaltigen Schuldenmaschine" schließlich auf der Hand. Doch dann geht Graeber die Luft aus. Schließlich verlangt er nur noch kleinlaut, diese Maschine "ein wenig zu drosseln" – wegen dieser Quintessenz braucht man das Buch eigentlich nicht zu lesen.
Aber selbst wenn der Durchmarsch durch Jahrtausende der Menschheitsgeschichte nicht immer gleichermaßen fesselt, so liefert David Graeber doch einen originellen Blick auf die Entwicklung der Zivilisation, wie ich ihn bisher noch nicht gelesen habe.
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