Betriebsames Mittelalter
Die begriffliche Abgrenzung des "Mittelalters" von der "Neuzeit" suggeriert einen epochalen Zeitenwechsel: Eine "finstere" Ära der Stagnation und der Unterdrückung des freien Geistes sei zu Ende gegangen, und eine "erleuchtete" Zeit der Wiedergeburt (Renaissance) sei angebrochen. Diese Sichtweise war lange Zeit sehr verbreitet, unterliegt jedoch seit einigen Jahren einer gründlichen Revision. Wie man inzwischen weiß, war das so genannte Mittelalter eine Zeit gravierender Umbrüche und zahlreicher Innovationen. Es nahm in vielerlei Hinsicht die Neuzeit vorweg oder trug ihre Blüten in sich. Bei genauer Betrachtung erscheint das Mittelalter nicht mehr als "andere Epoche", sondern als untrennbarer Bestandteil unserer Kulturgeschichte, der uns noch heute maßgeblich prägt.
Neue Belege hierfür liefert das Buch von Günter Bayerl, Professor für Technikgeschichte an der Technischen Universität in Cottbus. Darin beschreibt er die Entwicklung der Technik vom frühen Mittelalter bis zur Industrialisierung. Seine These: Die industrielle Revolution war das Ergebnis eines lang währenden evolutionären Prozesses, der weit vor der Neuzeit einsetzte (siehe auch Spektrum der Wissenschaft, Highlights 3/2008, "Forschung und Technik im Mittelalter", S. 72).
Eine erste Blüte erlebte die Technik im Hochmittelalter, als in den aufstrebenden Städten eine urbane, bürgerliche Gesellschaft entstand, die den Handel förderte und viele handwerkliche Innovationen hervorbrachte. Im Spätmittelalter verzögerten jedoch Klimaänderungen, Missernten und Pestepidemien diese Entwicklung – eine "gesamteuropäische Katastrophe", wie Bayerl sie nennt. Die frühe Neuzeit habe erneut eine Phase des Fortschritts und der Neuaneignung alten Wissens gebracht. Damals sei aber nicht nur die Antike wiedergeboren worden, wie der gängige Renaissance-Begriff impliziert, sondern auch das Hochmittelalter. Unser negatives Bild vom "finsteren Mittelalter" wurde demnach wesentlich von dessen katastrophaler Spätzeit geprägt und unterschlägt dabei die Errungenschaften vorhergehender Jahrhunderte.
Gemeinhin gilt die Zeit zwischen dem 5. und 15. Jahrhundert als innovationsfeindlich. Laut Bayerl herrschte tatsächlich eine gewisse Skepsis gegenüber neuen Entwicklungen, die allerdings in berechtigten Ängsten wurzelte. Denn Innovationen hätten, etwa während der industriellen Revolution, oft ökologische und ökonomische Entwicklungen in Gang gesetzt, die zu gewaltsamen gesellschaftlichen Umbrüchen führten. Technik sei im Mittelalter deshalb meist nur dort eingesetzt worden, wo sie schwere Arbeit erleichterte, aber nicht den Menschen ersetzte.
Thematisch sortiert bespricht Bayerl verschiedene mittelalterliche Technologien, ihre Verbreitung und ihren Einfluss auf Gesellschaft, Arbeit und Natur. In Beispielen zeigt er, warum damals revolutionär war, was uns heute vielfach banal und selbstverständlich erscheint. Als überraschend komplex erweist sich etwa das Zuggeschirr bei Pferden, das im Zusammenspiel mit dem Räderpflug, der Dreifelderwirtschaft und weiteren Innovationen zu deutlich höheren landwirtschaftlichen Erträgen führte und damit das Bevölkerungswachstum ankurbelte. Die zahlreichen Bilder sind ein Genuss und illustrieren wunderbar die damalige Zeit. Leider knüpft die Sprache nicht an diesen sinnlichen Reichtum an; sie bleibt oft technisch, distanziert und von Fachbegriffen geprägt, so dass sich die vielen Informationen nicht immer zu einem anschaulichen Bild verdichten.
Bayerl überzeugt mit seiner Kernthese, dass die Industrialisierung in technologischer Hinsicht einer allmählichen Evolution ähnelte. So kann er belegen, dass die moderne Massenherstellung sukzessive durch vergleichsweise kleine technische Fortschritte ermöglicht wurde, die Engpässe in der Produktion nach und nach auflösten. Allerdings geht seine Kritik am Begriff "industrielle Revolution" mitunter zu weit, da sie vernachlässigt, dass dieser Begriff nicht nur ein technisches, sondern vor allem ein gesellschaftliches Ereignis beschreibt. Die tiefgreifenden Umwälzungen ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die sich auf sozialer, ökonomischer und ökologischer Ebene abspielten, waren tatsächlich revolutionär. Überzogen wirken auch Bayerls Versuche, Symbole der Industrialisierung, etwa die Dampfmaschine, geschichtlich früher zu verorten.
Das Buch ist überall dort stark, wo es die eigenständige Entwicklung des Mittelalters selbst in den Blick nimmt. Der Autor arbeitet gekonnt heraus, wie in jenen Jahrhunderten das Verständnis für Technik wuchs und der Umgang mit ihr reifte – wie sich zunehmend größere Erfolge in Bergbau und Metallverarbeitung einstellten, ohne die der Maschinenbau der Neuzeit undenkbar gewesen wäre, und wie die Bevölkerung und die Städte wuchsen, ermöglicht durch Verbesserungen in der Landwirtschaft. Dies alles lässt einen staunen und mit Respekt auf das Mittelalter zurückblicken. Die Epoche zwischen Antike und Neuzeit, so das Fazit, hat ein differenzierteres Bild verdient: Nicht nur als Zeit der Finsternis, sondern auch des Lichts.
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