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Ein verletzlicher Mensch

"Ich bin krank." Bis sich der Soziologe und stellvertretende Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Helmut Dubiel, zu diesem Satz durchringt, vergehen Jahre. Jahre, in denen sein Umfeld mit Unverständnis reagiert, in denen Dubiel einen herben Karriereknick hinnehmen muss und schließlich gezwungen wird, sein Leben völlig neu zu ordnen.

Anfang der 1990er Jahre erleidet der damals 46-jährige Soziologieprofessor einen Zusammenbruch. Kurz darauf folgte die ärztliche Diagnose: Morbus Parkinson. Dubiel legt mit seinem Buch einen Bericht über das Erlebte vor – im Ausdruck mal hart und rabiat, dann wieder nachdenklich, fast zärtlich. Seine Aufarbeitung ist eine Selbsterfahrungsreportage, eine Synopsis der erlebten Einschränkungen, Frustrationen und Schmerzen – und geht doch darüber hinaus. Es ist auch eine Selbstergründung und kühle, weil professionell geleitete Analyse des eigenen emotionalen Versagens: "Tief im Hirn" zeigt Dubiels Wut auf sich selbst und auf eine seelenlose Medizin.

Scharfsinnig denkt der Soziologe über die Rolle und die Bedeutung von Krankheit in einer augenscheinlich rundum gesunden Gesellschaft nach. Die eigene Diagnose, die der Autor zunächst auf das Heftigste ablehnt, bringt ihn dazu, seine Ansichten über Glück und Zufriedenheit zu revidieren.

Zum einen manifestiert sich in der Diagnose die brutale Zufälligkeit des Lebens. Zum andern beginnt mit ihr ein "neues Regime der Ordnung, in der nichts mehr zufällig schien". Eine Besonderheit des Buchs ist die Art und Weise, wie der Autor zu seinem eigenen Schicksal Stellung bezieht: Dubiels Blick ist stets der eines distanzierten Beobachters, dessen wissenschaftliche Abgeklärtheit durch jede noch so persönliche Passage schimmert. Über die Komplexität des Zufalls und die Ambivalenz des Fortschritts findet sich hier Lesens- wie Bedenkenswertes, ebenso über die narzisstischen Kränkungen durch die Krankheit sowie die Folgen von Dramatisierung, Bagatellisierung und Depression.

Rigoros seziert Dubiel zudem die den Menschen durch institutionalisierte Routine zum "Fall" degradierende Schulmedizin. Eine tiefe Hirnstimulation, also das operative Einsetzen eines Hirnschrittmachers, ruft bei Dubiel als Nebenwirkung Sprach- und Gehbeeinträchtigungen sowie Depressionen hervor, die zum endgültigen Rückzug ins Private zwingen. Erst sein Sohn vermag ihn aus der Vereinzelung zu reißen.

"Tief im Hirn" transportiert eine hoffnungsvolle Botschaft: pragmatisch und nüchtern, sensibel und dem Leben zugewandt. "Alle wichtigen Entscheidungen des Lebens", schreibt der Autor, "sind in ihren Voraussetzungen wie in ihren Folgen zu komplex, um dem Bewusstsein des Handelnden gänzlich gegenwärtig zu sein. Das sollte unseren Narzissmus in keiner Weise kränken. Im Gegenteil: Das Wissen um die Offenheit des Lebens, die Ahnung, dass hinter der nächsten Bergkette, hinter der nächsten Wegbiegung noch ein unbekanntes Land liegt, ist eine der Bedingungen des Glücks."
  • Quellen
Gehirn&Geist 11/2006

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