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Von Schwarzen Rauchern und Vampirtintenfischen

"Der Lebensraum der Tiefsee ist etwa elfmal größer als der an Land. Mehr als 90 Prozent liegen unterhalb von 200 Metern, also jenseits des Einflussbereichs der Sonne. Dieses Riesenreich ist überall besiedelt …" Noch vor rund 150 Jahren wusste die Wissenschaft nichts von alledem: Es galt die Lehrmeinung, dass in den tiefsten Meeresregionen nichts Lebendiges mehr existieren könne. Dagmar Röhrlich, Geologin und Wissenschaftsjournalistin, wagt im ersten Band der neuen Reihe "mare Wissen" den Abstieg in die Tiefsee und ihre spannende Entdeckungsgeschichte.

Das Buch beginnt mit dem bislang ungebrochenen Rekord der "Trieste", eines UBoots, das 1960 im pazifischen Marianengraben eine Tiefe von 10 910 Metern erreichte. Nie zuvor und danach ist ein lebender Mensch so tief getaucht wie die Insassen der "Trieste", der Schweizer Forscher Jacques Piccard (1922 – 2008) und sein amerikanischer Kopilot Don Walsh. Während Röhrlich die beiden in ihrer primitiv anmutenden Stahlkugel nach unten sinken lässt, gibt sie einen Rückblick auf bis dato wichtige Stationen der Tiefseeforschung. Als Piccard und Walsh auf dem Meeresgrund einen Plattfisch entdecken, ist dies der letzte Beweis, dass der größte Lebensraum der Erde auch in seinen tiefsten Regionen belebt ist. Bereits die berühmte "Challenger"-Expedition unter der Leitung von Charles Wyville Thomson und John Murray war dem Leben in der Tiefe auf der Spur.

In den Jahren von 1872 bis 1876 legten die britischen Wissenschaftler mit Kartierungen, Tiefenmessungen und Beprobungen in allen Weltmeeren den Grundstein der modernen Tiefseeforschung und suchten Beweise für Darwins damals umstrittene Evolutionstheorie. Diese Geschichte ist der rote Faden von Röhrlichs "Tiefsee".

Die Autorin berichtet in insgesamt zwölf Kapiteln von den dreieinhalb Jahren auf See, in denen die Forscher unter härtesten Bedingungen Daten sammelten. Anhand von hinterlassenen Briefen, Tagebüchern und Logbucheinträgen rekonstruiert Röhrlich wissenschaftliche Sternstunden der Entdecker und Anekdoten aus dem Alltag der Matrosen. Sie berichtet von dramatischen Schicksalen und einem zermürbend monotonen Leben auf See. Dass die Forschung von jedem Einzelnen an Bord getragen wurde und einfache Matrosen oft ihr Leben "wegen ein paar Steinen auf dem Meeresgrund" ließen, ist nicht immer in der Geschichte der Naturwissenschaften verzeichnet, bei Röhrlich schon.

In immer neuen Szenen von Bord der "Challenger" und vom Meeresgrund stellt die Autorin große Zusammenhänge her – etwa zwischen den soeben mittels Schleppnetz (Dredsche) vom Meeresgrund heraufbeförderten Seelilien und der Evolutionstheorie. Wo sich ein Brückenschlag anbietet, plaudert sie von Manganknollen, Seebergen, Mittelozeanischen Rücken und Vampirtintenfischen und ergänzt den damaligen Blick der Forscher durch heutige Erkenntnisse, die diese sicher brennend interessiert hätten. Röhrlich erklärt Meeresströmungen und schlägt Haken zu Meilensteinen der Wissenschaftsgeschichte, vom Mythos des versunkenen Kontinentes Lemuria bis zur Entdeckung der Plattentektonik.

Nach und nach lernt der Leser so die Tiefsee kennen als eine Welt, die geologische Geheimnisse unseres Planeten offenbart. Im biologischen Sinn ist sie ein Lebensraum des Hungers und der Extreme. Ihre Bewohner sind mit den abenteuerlichsten Eigenschaften ausgestattet, um von den wenigen in die Tiefe gelangenden Nährstoffen ein Quäntchen für das eigene Überleben zu ergattern.

Nicht nur die bekannten Anglerfische bringen mit ihren Lockorganen Licht in die Finsternis. In dem von unserer Sonne am weitesten entfernten Lebensraum produzieren 90 Prozent der Lebewesen ihr eigenes Licht. Ihnen widmet Röhrlich ein eigenes Kapitel. Die fremdartigen Ökosysteme, die sich im Umkreis hydrothermaler Quellen auf dem Meeresboden entwickelt haben, beruhen auf Stoffkreisläufen, die völlig von geologischen Prozessen in der Erdkruste angetrieben werden. Dazu gehören die "Schwarzen Raucher" (Spektrum der Wissenschaft, Spezial 2/2007 "Raumschiff Erde", S. 32) und die erst vor zehn Jahren im Atlantik entdeckten kalkweißen Schlote der "verlorenen Stadt". Ihre Erforschung widerlegte das bis dahin anerkannte Dogma, dass alle Lebensprozesse direkt oder indirekt von der Sonne abhängig seien.

Die Tiefsee kann so manchen verschlingen. Dagmar Röhrlich springt so plötzlich zwischen Jahreszahlen und weiteren reportageartig eingeflochtenen Erzählsträngen hin und her, dass einem schwindlig werden kann. Irgendwann taucht sie wieder auf und wirft dem schwimmenden Leser den roten Faden erneut zu. Je stärker die Struktur der Geschichte hervortritt, desto mehr kommt die erzählerische Stärke der Autorin zum Tragen, und sie vermittelt auf unterhaltsame Weise viel Wissenswertes. Da die Quellen im Text nicht deutlich werden, ist allerdings nicht immer klar, was überliefert und was künstlerische Freiheit ist. Wie die Kapitelüberschriften bescheiden andeuten, erhebt Röhrlich auch nicht den Anspruch auf einen wissenschaftlichen Überblick, sondern legt den Schwerpunkt auf die Balance zwischen Unterhaltungswert und Information. Besonders gelungen ist der Übergang zur Neuzeit: Röhrlich reißt ausgewählte Umweltprobleme an wie die Überfischung des Granatbarsches oder den Plastikmüll im Meer, ohne sich darin zu erschöpfen.

Die dekorativen Illustrationen von Jan Feindt sind stilistisch konsequent. Sie erinnern an bebilderte Abenteuerromane vergangener Jahrhunderte, vielleicht sogar an die Werke von Jules Verne – und daran, dass die Erforschung der Tiefsee auch heute noch ein Abenteuer bleibt. Dem fachlich interessierten Leser wären stellenweise vielleicht Detailzeichungen, die etwa die verschiedenen Schlangensternarten kenntlich machen, oder Ausschnitte der im Text beschriebenen Karten oder Unterwasserlandschaften lieber gewesen. Unerklärte Zeichnungen der am Bord der "Challenger" verwendeten Laboratorien lassen nur erkennen, dass das wohl eine komplizierte Angelegenheit war.

Der zweite Band von Dagmar Röhrlich in der Reihe "mare Wissen" erscheint im Oktober und trägt den Titel "Urmeer – die Enstehung des Lebens".

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 9/2010

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