Wildes Durcheinander
Während kaum jemand behaupten würde, dass alle Menschen mathematisch begabt sind, gilt die Aussage "Jeder ist kreativ" fast schon als Binsenweisheit. Eine solche Behauptung fällt umso leichter, je mehr man eine genaue Definition von Kreativität vermeidet. Bei der Beschreibung der Eigenschaft gerät denn auch das Autorenduo aus Wissenschaftsjournalistin Beatrice Wagner und Hirnforscher Ernst Pöppel ins Schlingern. Als Ausdruck von Kreativität führen sie Neugier, Sensitivität für ungelöste Probleme, Flexibilität und noch ein paar andere Dinge an. Die Aufzählung ist so weitläufig, dass wohl jeder etwas darin findet, was auf ihn zutrifft. Diese Unbestimmtheit führt dazu, dass das Buch einen roten Faden vermissen lässt. Je mehr der Leser darin liest, desto mehr fragt er sich: Was wollen mir die Autoren eigentlich sagen?
Zu Beginn stellen sie kurz und knapp die Bedingungen der Kreativität vor. Dazu gehören unter anderen die Fähigkeit, sich zu erinnern und zu vergessen, sowie eine gewisse Chuzpe, wenn es gilt, neue Aufgaben anzugehen. In diesen Kapiteln finden sich immer wieder interessante Fakten und neurowissenschaftliche Erkenntnisse, die aufmerken lassen – aber auch viele Gemeinplätze. Sobald es eigentlich in die Tiefe gehen müsste, springen die Autoren zum nächsten Gedanken. Jedes Kapitel schließt mit einem in den meisten Fällen eher belanglosen Interview. Zu der offenbar willkürlichen Auswahl der Gesprächspartner gehören "Bild"- Chefredakteur Kai Diekmann, die Geschäftsführerin eines Golf-Hotels und der Verleger-Patriarch Hubert Burda.
Im nächsten Buchabschnitt referiert das Autorenduo über die menschliche Evolutionsgeschichte; daraufhin folgen knapp gehaltene Interpretationen meist lustiger Gedichte, die angeblich beweisen, dass Dichter schon immer über Kreativität wussten, was Neurowissenschaftler gerade jetzt erst herausfinden. Was genau das ist, hat der Leser aber zuvor nicht so recht erfahren und vermag entsprechend auch die Leistungen der Schriftsteller kaum zu würdigen. Am Ende steht ein kommentiertes Literaturverzeichnis, das mit einer längeren Erläuterung dazu beginnt, warum solche Listen eigentlich Unsinn sind.
Das Buch trägt eindeutig Pöppels Handschrift – der Beitrag der journalistisch versierten Koautorin ist nur schwer zu erkennen. Es leidet deshalb unter der gleichen Schwäche wie eines seiner Vorgängerwerke, "Der Rahmen": Die Gedanken sind unstrukturiert; Anekdoten und Fakten, Lebensweisheiten und neurobiologische Erkenntnisse purzeln wild durcheinander. So verliert der Leser leider Seite um Seite die Lust, den Gedanken zu folgen. Markus Reiter ist Journalist und Wissenschaftspublizist in Stuttgart.
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