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Logik vor Gericht

Mathematiker sind oft damit konfrontiert, dass ihr Fach kaum spürbar Eingang in den Alltag findet. Natürlich wissen viele Menschen: Zahlreiche Bereiche des heutigen Lebens wären ohne Mathematik kaum vorstellbar – man denke etwa an technische Innovationen wie das Internet. Es fehlt aber an konkreten, plastischen Beispielen für den Lebensweltbezug dieses Fachs.

Das Buch "Wahrscheinlich Mord" liefert solche Beispiele. Es beschreibt acht Kriminalfälle, die sich wirklich zugetragen haben, vor Gericht verhandelt wurden und in denen Mathematik eine entscheidende Rolle spielte. In allen Fällen zogen die Ermittler, gestützt auf mathematische Überlegungen, falsche Schlussfolgerungen. Manchmal führte das zur Inhaftierung von Menschen, die, wie sich später herausstellte, unschuldig waren.

Die Autorinnen Coralie Colmez und Leila Schneps schildern die Verbrechen mitunter recht dramatisch und unnötig ausführlich. Anschließend beschreiben sie die Gerichtsverhandlung. Weil die konventionelle Indizienlage in diesen Fällen nicht ausreichte, zogen die Ermittler Experten heran, die dann – unter Rückgriff auf Mathematik – prozessentscheidende Argumente lieferten. Dabei unterliefen den (tatsächlichen oder vermeintlichen) Fachleuten jedoch Fehler. Die Autorinnen erklären diese Fehler aus mathematischer Sicht und rücken sie ins rechte Licht. Sie geben Hinweise, wie der jeweilige Irrtum hätte vermieden werden können, und stellen die Geschehnisse nach dem Prozess dar.

Colmez und Schneps leiten jeden Fall mit einer kurzen, recht anschaulichen mathematischen Erläuterung ein. Diese nehmen sie als Grundlage, um in den folgenden Passagen herauszuarbeiten, was in dem Prozess falsch lief. Wie der Titel schon andeutet, spielen in dem Buch vor allem statistische Fehlschlüsse und wahrscheinlichkeitstheoretische Betrachtungen eine Rolle. Geht es den Autorinnen zu Beginn noch um die Unabhängigkeit von Ereignissen, bemühen sie später den Satz von Bayes, der von der Berechnung bedingter Wahrscheinlichkeiten handelt, und befassen sich schließlich mit komplexen statistischen Fehlern.

Leila Schneps ist Professorin für algebraische Geometrie an der Universität von Paris. Ihre Tochter Coralie Colmez hat in Cambridge Mathematik studiert und arbeitet als Tutorin in London. Diese Expertise merkt man dem Werk an. Es ist ausgezeichnet recherchiert und durchweg mit Quellen belegt. Dieser sehr guten wissenschaftlichen Arbeitsweise steht jedoch ein oft sperriger Sprachstil gegenüber, der teils aus der Übersetzung resultieren mag. Auch sind die Fälle unterschiedlich gut für die Darstellung geeignet. So ereignete sich eines der Verbrechen vor mehr als 100 Jahren, während es bei einem anderen noch keine abschließende juristische Bewertung gibt. Die mathematischen Aspekte haben von Fall zu Fall ein unterschiedliches Gewicht und wirken an manchen Stellen weit hergeholt.

Nichtsdestoweniger ist das Buch stellenweise sehr unterhaltsam, spannend geschrieben und mathematisch für Laien nachvollziehbar. Am Ende hatte ich Lust auf mehr Informationen und wurde auf den Blog der Autorinnen (mathsontrial.blogspot.com) verwiesen. Beide sind in der internationalen "Bayes and Law"-Forschungsgruppe aktiv, deren Ziel darin besteht, den Gebrauch von Statistik in Gerichtsprozessen zu verbessern. In dem Blog berichten Schneps und Colmez über ihre Publikationen und weitere Arbeiten auf diesem mitreißenden Gebiet.

Das Buch zeigt, welch handfeste Anwendungen Mathematik manchmal hat, und verdeutlicht die potenziell fatalen Folgen, wenn man sie falsch gebraucht. Insgesamt ist es ein gelungenes Plädoyer dafür, Mathematik stärker im Alltag anzuwenden und von ihren Methoden zu profitieren.

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