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Spekulationen über den Urknall

Wie wir heute wissen, fliegt das Universum mit steigender Geschwindigkeit auseinander. Wenn wir die kosmische Expansion zeitlich umkehren wie einen rückwärtslaufenden Film, landen wir bei einem ungeheuer heißen, dichten Anfangspunkt, dem Urknall. Über die Singularität, mit der Raum, Zeit, Strahlung und Materie ihren Anfang nahmen, wissen wir nichts.

Dennoch reizt es Kosmologen, über die Art des Anfangs zu spekulieren. Vielleicht ist unser Universum nur eines unter vielen Paralleluniversen, die unentwegt aus Quantenfluktuationen des Vakuums entstehen? Vielleicht gab es vor dem Urknall ein Vorgängeruniversum, das an seinem Ende zu einem singulären Punkt kollabierte, aus dem unser All hervorging?

Solche Spekulationen bereichert Roger Penrose um eine neue, eigenwillige Version. Der englische Mathematiker und Physiker ist eine Autorität auf dem Gebiet der allgemeinen Relativitätstheorie; zusammen mit seinem Kollegen Stephen Hawking hat er in den 1960er Jahren theoretisch bewiesen, dass es in der Raumzeit Singularitäten geben muss. Wie man heute weiß, lauern solche Risse im Raumzeit-Kontinuum zum Beispiel als supermassereiche Schwarze Löcher im Zentrum von Galaxien und machen sich gelegentlich als Quasare bemerkbar – die energiereichsten Strahlungsausbrüche überhaupt. Was eine solche Koryphäe über die Singularität am Anfang unseres Universums zu sagen hat, verdient gewiss Aufmerksamkeit.

Penrose beginnt seine Überlegung mit einem Problem, das der Urknall aufwirft. Nach dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik strebt die Entropie eines Systems zu immer höheren Werten. Die Entropie ist ein Maß für die Wahrscheinlichkeit eines Zustands, und die hängt wiederum mit der Unordnung des Systems zusammen. Penrose zitiert das Beispiel vom rohen Ei, das vom Tisch rollt und auf dem Teppich zerbricht. Der Vorgang erhöht die Entropie des Eis, das als unordentliche Masse auf dem Teppich liegen bleibt; der umgekehrte Prozess – der Teppich wird von selbst wieder sauber, das geplatzte Ei setzt sich zusammen und landet auf der Tischkante – ist zwar mikrophysikalisch nicht unmöglich, da die Bewegungen aller einzelnen Eipartikel zeitlich umkehrbar sind, aber extrem unwahrscheinlich. Diese Vorzugsrichtung der zeitlichen Entwicklung drückt der Satz von der zunehmenden Entropie aus.

Das Problem ist nun: Wenn die Entropie seit Anbeginn der Welt immer nur zugenommen hat, muss sie beim Urknall winzig gewesen sein. Aber wieso soll jener heiße, dichte Ausgangspunkt, der Augenblick einer gigantischen Explosion, ausgerechnet ein Höchstmaß an Ordnung und Unwahrscheinlichkeit besessen haben? Das schreit geradezu nach einer Vorgeschichte, die uns erklärt, wodurch die Entropie des Universums beim Urknall quasi auf null gestellt wurde.

Wie Penrose dieses Problem im ersten Teil seines Buchs erläutert, das macht ihm keiner nach. Er nimmt den Leser mit in abstrakte Phasenräume, die er mit virtuos gezeichneten Skizzen veranschaulicht. Wie in seinen früheren halb populärwissenschaftlichen Büchern – beginnend mit "The Emperor’s New Mind", das ich seinerzeit ins Deutsche übersetzt habe – erweist er sich als souveräner Erzähler von Geschichten aus der Welt der mathematischen Physik. Man ist gespannt auf den Ausgang: Wie wird Penrose das kosmologische Entropieproblem lösen?

Um es gleich zu sagen: Er verlässt die Physik und hebt in pure Geometrie ab. Ziemlich kurz angebunden – was sonst gar nicht seine Art ist – führt Penrose geometrische Transformationen ein, die er bescheiden "konforme Abbildungen zwischen Minkowski-Räumen" nennt. In der Fachwelt sind sie als Penrose-Diagramme bekannt. Experten der Gravitationstheorie dürften sie so anschaulich finden wie ein Teilchenphysiker die Feynman-Diagramme, aber dem gewöhnlichen Leser gibt Penrose keine Erklärung, sondern nur Hieroglyphen.

Diese konformen Abbildungen müssen nun die gesamte Beweislast des von Penrose vorgeschlagenen Modells tragen. Penrose-Diagramme zeichnen sich dadurch aus, dass beim Wegtransformieren der Unendlichkeiten mittels dieser Abbildungen nur die Lichtkegel, das heißt die Raumzeitlinien der Photonen, ihre Form behalten. Also nimmt Penrose einfach an, dass mit der Zeit die gesamte Materie des Universums in Schwarzen Löchern verschwindet, bis nur noch Photonen übrig sind – und dann macht eine konforme Transformation aus dem müden alten Universum schwuppdiwupp ein funkelnagelneues, das mit einem rein geometrisch herbeigezauberten – oder zumindest ermöglichten – Urknall beginnt.

Und wieso verschwindet dabei die hohe Entropie des alten Universums? Da wird Penrose ganz vage. Er behauptet, die alles verschlingenden Schwarzen Löcher würden als eine Art Entropiestaubsauger wirken. Das ist aber doppelt unglaubwürdig. Was nach Stephen Hawkings früherer Meinung – die dieser im Unterschied zu Penrose unterdessen revidiert hat – in Schwarzen Löchern auf Nimmerwiedersehen verschwindet, ist nicht Entropie, sondern Information. Letztere ist aber gewissermaßen das Gegenteil von Entropie. Wenn Information, das heißt geordnete Struktur, im Schwarzen Loch verschwindet, nimmt die Unordnung des restlichen Universums zu: Die Entropie wächst! Ganz zu schweigen davon, dass die allermeisten Physiker, Hawking inklusive, heute der Überzeugung sind, dass Schwarze Löcher die geschluckte Information mit der so genannten Hawking-Strahlung wieder komplett auswerfen.

So oder so: Die Schwarzen Löcher lösen das von Penrose aufgeworfene Rätsel der kosmologischen Entropie nicht. Der von der Exposition des Problems faszinierte Leser fühlt sich frustriert.

Unabhängig davon muss jedes kosmologische Modell, und sei es noch so spekulativ, irgendeine empirisch prüfbare Aussage machen. Das versucht auch Penrose. Er vermutet, in der kosmischen Hintergrundstrahlung müsste es charakteristische Spuren der letzten Phase vor dem Urknall geben, und zwar in Form großer Kreisbögen, die sich als winzige Abweichungen vom Strahlungshintergrund am Himmel abzeichnen sollen. Es wurde im vergangenen Jahr sogar gelegentlich behauptet, man habe solche Spuren entdeckt. Die meisten Kosmologen bezweifeln aber, dass dahinter mehr steckt als Zufallsrauschen.

Alles in allem eröffnet das Buch einen interessanten, aber letztlich verwirrenden Blick in hochspezielle Bereiche der kosmologischen Hypothesenbildung. Ab der Mitte ist es nur noch für einen kleinen Kreis von Experten verständlich.

  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 5/2012

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