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Chernobyl: Der Preis der Lügen

Die Serie »Chernobyl« zeichnet in akribischen wie auch erschreckenden Details den schlimmsten atomaren Unfall der Menschheitsgeschichte nach. Doch was davon ist tatsächlich wahr?
© HBO
Chernobyl: Der Preis der Lügen

Veröffentlicht am: 28.05.2019

Laufzeit: 0:02:38

Sprache: englisch

Home Box Office (HBO) ist ein US-amerikanischer Fernsehprogrammanbieter mit Sitz in New York City.

Achtung, der Text enthält Spoiler zur Serie »Chernobyl«! In Deutschland ist die Koproduktion von HBO und Sky auf Sky und Amazon Prime zu sehen.

Die Serie beginnt mit dem Selbstmord des geplagten, schwer kranken Valeri Legassow - Wissenschaftler und Leiter des Untersuchungskomitees der Reaktorkatastrophe des Jahres 1986. Legassow nahm den Strick, nachdem er seine Version der Dinge auf Band aufgezeichnet und seine Katze gefüttert hat – fast auf die Minute genau zwei Jahre nach dem Unfall. Legassow gab es wirklich. Ende der 1980er Jahre hat er Zeugnis abgelegt über das, was er herausgefunden hatte. Seine Tagebücher sind bis heute schwer zugänglich. Und tatsächlich erhängte er sich zwei Jahre und einen Tag nach dem Unfall.

Den genauen Hergang der Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 erfährt der Zuschauer erst in der letzten Folge der fünfteiligen Miniserie. Zunächst erzählt sie, was unmittelbar nach dem katastrophalen Unfall passiert ist – und wie lange es dauerte, bis die Verantwortlichen akzeptierten, wie ernst die Lage ist. Die Feuerwehr wird beispielsweise nur deshalb zum Kernkraftwerk gerufen, weil dort das Dach brennt. In der Kontrollzentrale meldet ein panischer Arbeiter da bereits, der Reaktor sei explodiert. Doch Schichtleiter Alexander Akimow hält das zunächst für unmöglich. Ein Reaktorkern explodiere nicht. Weitere Arbeiter werden losgeschickt, um zu prüfen, wie genau der Zustand des Reaktors ist. Sie kommen nicht mehr zurück oder sterben wenige Stunden später.

Als einer der zurückgekehrten Arbeiter versucht, dem stellvertretender Chefingenieur Anatoli Djatlow den Ernst der Lage klarzumachen, erkundigt dieser sich ungerührt nach dem Stand der Steuerstäbe. Statt einer Antwort übergibt sich der Arbeiter. Djatlow tut seine Aussage als Lüge ab. Seine Übelkeit komme von kontaminiertem Speisewasser, behauptet der Chefingenieur in der TV-Serie. Er weist an, Wasser in den Reaktor zu pumpen, um ihn zu kühlen. Akimov und Reaktorkontrollingenieur Leonid Toptunow machen sich deshalb auf, die Wasserzufuhr zum Reaktor manuell zu öffnen. Das bezahlen sie gut zwei Wochen später mit ihrem Leben.

Doch immer noch will Djatlow die Situation nicht wahrhaben. Bei einer Krisensitzung mit dem Kraftwerksdirektor eine Stunde nach dem Vorfall besteht er darauf, dass nur das Dach in Brand stehe und der Reaktor kontinuierlich gekühlt werde. Die Radioaktivität belaufe sich auf nicht mehr als 3,6 Röntgen pro Stunde. Später stellte sich heraus: Das war schlichtweg der Maximalwert des Messgeräts. Nuklearingenieur Anatoly Sitnikov wird auf das Dach des angrenzenden Reaktorblocks geschickt, um die Situation zu prüfen, was er nur einen Monat überleben wird. Auch Chefingenieur Djatlow bekommt inzwischen die Konsequenzen des Unfalls zu spüren – er übergibt sich noch im Sitzungssaal.

Für TV-Zuschauer ist es schwer mitanzusehen, wie langsam die Verantwortlichen auf die Katastrophe reagieren. Hat sich das wirklich so zugetragen? Wer sich mit dem Unfallhergang im April 1986 befasst, stellt fest: Die in der Serie geschilderten Abläufe sind sehr nah an der Realität. Das gilt selbst für die Szene, in der Sitnikov den Befehl erhält, den Reaktor mit eigenen Augen zu inspizieren.

Das erzwungene Himmelfahrtskommando hatte letztlich auch für seinen Vorgesetzten Konsequenzen: Chefingenieur Nikolai Fomin wurde für die Anweisung – und weitere »grobe Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften« – zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt.

Auch bei der Schilderung der panischen Szenen rund um den Reaktor scheint sich das Drehbuch der Serie stark an den realen Begebenheiten zu orientieren: »Die Emotionen zu dem Zeitpunkt beim Personal sowie den Behörden sind sehr genau dargestellt«, sagte Oleksiy Breus, ehemaliger Arbeiter im Kernkraftwerk, in einem Interview mit der BBC.

Die Behörden wollen den Unfall vertuschen

Der Erste in der Serie, der Verdacht schöpft, dass sowohl die Messwerte als auch die Angaben zum Brand des Dachs nicht stimmen, ist Hauptprotagonist Legassow, als er im Unfallbericht von Grafitteilen auf dem Gelände liest. Nur an einem einzigen Ort im Kraftwerk gebe es dieses Mineral: im Kern des Reaktors. Er müsse somit explodiert sein.

In einer Sitzung mit den obersten Mitgliedern der Regierung, die in der Serie gezeigt wird, schlägt er Alarm: Radioaktive Partikel würden über den ganzen Kontinent getragen werden. Zusammen mit dem Politiker Boris Schtscherbina wird Legassow daraufhin beauftragt, die Situation vor Ort zu beobachten. Schtscherbina zeigt sich skeptisch: »Was wir nicht sehen, wissen wir nicht«, spielt er Legassows Bedenken herunter. Eine Evakuierung der angrenzenden Stadt Prypjat hält er für übertrieben: »Wir sind doch auch hier.« Legassow kontert: »Ja, und wir sind in fünf Jahren tot.«

Tatsächlich waren es vier. Schtscherbina starb 1990 in Moskau. Ebenfalls zutreffend ist, dass die sowjetischen Behörden zunächst den Mantel des Schweigens über die Geschehnisse legten: Erst 36 Stunden nach dem Unfall ordneten sie an, Prypjat und andere Wohngebiete zu evakuieren. Das lag vermutlich auch daran lag, dass sich bis zum Abend des 26. April Meldungen über einen intakten Reaktor hielten.

Nach drei Tagen erreichte die nukleare Wolke Schweden

Der Rest der Welt erfuhr auf Umwegen von der Katastrophe: In einem Atomkraftwerk in Schweden schlugen Sensoren aus, weil die »nukleare Wolke« aus Tschernobyl das Land erreicht hatte – das war drei Tage nach der Explosion. Die Wolke breitete sich danach fast über ganz Europa aus.

Noch am gleichen Tag erreichte sie Deutschland, am 3. Mai 1986 sogar Frankreich. Das hatte Folgen, nicht nur für die Ukraine: Die radioaktiven Isotope von Cäsium und Jod verteilten sich über weite Teile Europas – im Fall von Cäsiums-137 hatte dieser Fallout eine Halbwertszeit von 30 Jahren. In Deutschland musste erstmals ein Grenzwert für Becquerel-Werte in Lebensmitteln festgelegt werden. Einige Wildpilze und -tiere sind heute noch belastet.

Am schlimmsten betroffen waren – und sind – natürlich die Menschen vor Ort, allen voran die »Liquidatoren« – sämtliche Arbeiter und Beteiligte, die zur Katastrophenbekämpfung beordert wurden. Auch dies wird in der Serie adäquat, wenn auch teilweise leicht überzogen dargestellt. Die Feuerwehrmänner, die das angeblich brennende Dach löschen sollen, räumen Grafitsteine aus dem Weg und liegen schon wenige Minuten später verwundet oder sich übergebend am Boden.

Tatsächlich können die ersten Symptome der akuten Strahlenkrankheit – beispielsweise Blasenbildung, Übelkeit und Erbrechen – bereits binnen 15 Minuten auftreten, sofern Menschen sehr starker Strahlung ausgesetzt sind. Darauf folgt, wie Legassow in der Serie korrekt erklärt, eine Latenzperiode, die »Walking-Ghost-Phase«, in der es zu einer scheinbaren Besserung kommt. Anschließend sterben jedoch Zellen im großen Stil ab, es kommt zu inneren Blutungen und schließlich zum Tod.

Auch stimmt es, dass die Feuerwehrleute in Tschernobyl ohne jegliche Schutzkleidung gegen Radioaktivität im Einsatz waren, da sie ja nichts von der Explosion wussten. Sechs Feuerwehrmänner erlagen wenige Tage nach dem Unfall der akuten Strahlenkrankheit, manche starben wie auch andere Liquidatoren Jahre später an den Folgen. Zu diesem Ergebnis kam der 2008 veröffentlichte Report des Wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung (UNSCEAR).

Auch Wassili Ignatenko, der in der Serie exemplarisch für die Geschichte vieler seiner Kollegen steht, starb am 13. Mai 1986 mit nur 25 Jahren. Seine Frau Lyudmilla beschrieb in dem Buch »Voices from Chernobyl«, wie er in einem Zinksarg unter Zement barfuss begraben wurde, weil seine Füße so geschwollen waren, dass sie nicht mehr in seine Schuhe passten. Ihr Buch scheint auch die Quelle für ein anderes tragisches Detail aus der Serie zu sein: In ihr ist Lyudmilla schwanger und verliert ihr Kind wenige Stunden nach der Geburt.

Manche Details in »Chernobyl« lassen sich nur schwer überprüfen. Beispielsweise kann sich Ingenieur Breus im BBC-Interview nicht an schaulustige Einwohner erinnern, die in der Serie das Feuer von der »Brücke des Todes« aus beobachten. Für Dramatisierungen wie diese erntete die Serie wiederholt Kritik.

Kontroverse Szene mit einem Helikopter

Eine der am meisten diskutierten Szenen in dieser Hinsicht dreht sich um einen Hubschrauber: Bei dem Versuch, den brennenden Reaktor mit einem Sandgemisch zu löschen, stürzt dieser ab. Der Grund hierfür war der Zusammenstoß mit dem Kabel eines Krans. Dies ist in der Szene bei genauem Hinsehen auch erkennbar. Trotzdem ist der Absturz in Wahrheit nicht während des Sandabwurfs passiert, sondern erst Wochen nach dem Unfall.

Auch die drei Arbeiter, die sich in Folge zwei der Serie aufmachen, um die Wassertanks nahe dem Reaktor zu leeren, taten dies weder freiwillig noch unter Applaus, und es gab auch keine Belohnung. »Hätte ich es nicht getan, hätten sie mich gefeuert«, sagte einer von ihnen später. Erst dieses Jahr wurden sie als »Helden der Ukraine« geehrt. Ein weiterer Kollege hat diese Ehrung nicht mehr erlebt.

Das mit der Aufklärung der Katastrophe betraute UN-Gremium führt offiziell 54 Opfer an, deren Tod zweifelsfrei auf Radioaktivität zurückzuführen ist. Unklarer sind die Langzeitwirkungen wie Krebs, Sterilität oder Anämie. Die UNSCEAR-Experten schätzen die Zahl der zusätzlichen verfrühten Krebs- und Leukämietoten auf 4000. Atomkritische Umwelt- und Gesundheitsorganisationen kommen auf wesentlich höhere Zahlen.

Die Opferzahlen der Katastrophe sind auch deshalb umstritten, weil es sehr schwer ist, eine Krebserkrankung eindeutig auf Radioaktivität zurückzuführen. Die Personen aus dem Umland von Tschernobyl mussten oft ihre Heimat verlassen, wurden stigmatisiert, fingen an zu rauchen – oder hatten schlicht mit den psychischen Folgen des Unglücks zu kämpfen.

Die UdSSR hat die Aufklärung der Gesundheitsfolgen leider eher erschwert: Im Jahr 1988 verbot sie es Ärzten, diagnostizierte Krankheiten in Verbindung mit der radioaktiven Verseuchung zu bringen. Die ukrainische Regierung hat aber mittlerweile 35 000 unfallgeschädigten Familien eine Pension ausgezahlt.

Wie es zum Unfall kam

Der Unfall passierte nach einem Sicherheitstest, bei dem in der Serie vor allem Testaufseher Djatlow rücksichtslos vorgeht. Legassow beschreibt dies in der letzten Folge während des Gerichtsverfahrens. Tatsächlich war er bei dem Prozess nicht anwesend, schrieb jedoch in seinem Bericht, die Katastrophe sei »durch Vernachlässigung seitens Management und Konstrukteuren sowie Verherrlichung des ökonomischen Systems verursacht« worden. Akkurater sind die Entscheidungen des Gerichts wiedergegeben: Djatlow, Fomin und Direktor Viktor Brjuchanov wurden zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt.

Bei einer anderen Sache scheint sich die Produktion dagegen künstlerische Freiheiten genommen zu haben: Wiederholt zeigt sie, wie der KGB Protagonisten bedroht oder sie beschattet. Die Episoden wirken jedoch so, als seien sie, wenn nicht erfunden, zumindest stark überspitzt.

Dabei hat es »Chernobyl« eigentlich gar nicht nötig, nach mehr Spannung zu haschen. Die tatsächlichen Ereignisse, die überwiegend realistisch und korrekt dargestellt sind, sind grausam genug. Gerade das hohe Maß an Authentizität und Realität machen die Serie stellenweise fast unerträglich. Sie lässt den Zuschauer mit einem bedrückenden Gefühl aus Angst, Trauer und Hilflosigkeit zurück.

Es spiegelt sich auch in der Hintergrundmusik wider, in der es immer wieder pfeift, brummt, piepst oder wie in einem Geigerzähler knackt. Sie ist nervenaufreibend, durchdringend und brillant, genau wie die Serie selbst. Am Ende jeder Folge möchte man eigentlich nie wieder Leitungswasser trinken oder Obst aus dem Garten essen, die ganze Welt scheint verseucht. Damit schafft die Serie genau das, was Sowjetpolitiker Schtscherbina für unmöglich hielt: Man fürchtet etwas, obwohl man es nicht sehen kann. So bekommt man ein eindrucksvolles Gefühl davon, wie es den Opfern und Überlebenden von Tschernobyl vor 33 Jahren ergangen sein muss. Und das ist schon eine Meisterleistung.

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