Sciencefiction: Insel im Nirgendwo
Fünf Männer und fünf Frauen wachen an einem tropischen Strand auf. Niemand kann sich an irgendetwas aus seiner Vergangenheit erinnern, nicht einmal an den eigenen Namen. Alle sind gesund, zwischen 20 und 40 Jahre alt und tragen eine Art Uniform. Und von da an wird es erst richtig seltsam …
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätten die Produzenten die Serie »Lost« mit der Realityshow »Love Island« gekreuzt. Doch das scheinbare Paradies aus Sonne, Sand und Palmen hat ganz offenbar unbekannte Abgründe. Einige Mitglieder der Gruppe verhalten sich ausgesprochen auffällig. Allen ist schnell klar, dass sie absichtlich ausgesetzt wurden, aber niemand hat eine Idee, was dahintersteckt. Misstrauen beginnt, die Beziehungen zu vergiften. Seltsame Artefakte tauchen auf, ein Hinweisschild fordert auf: »Findet euren Weg zurück«. Wie die Protagonistin schon früh herausfindet, existiert die Insel nicht, sie ist lediglich eine Simulation. Alle Gruppenmitglieder sind Insassen eines texanischen Gefängnisses, denen Wissenschaftler eine zweite Chance versprachen. Würden sie sich auch dann antisozial und kriminell verhalten, wenn sie ohne Erinnerung in einer völlig fremden Umgebung aufwachten? »Nature versus Nurture« (etwa: Natur gegen Erziehung) lautet das Stichwort für diese Diskussion. Bestimmen die Gene schicksalhaft unseren Charakter oder formt uns erst das Leben?
Die Wissenschaft neigt heute dazu, beiden Faktoren einen gewissen Einfluss einzuräumen. Zwillingsstudien haben gezeigt, dass eng verwandte Menschen zu ähnlichen Reaktionsweisen neigen, selbst wenn sie in verschiedenen Umgebungen aufgewachsen sind. Ebenso unbestritten ist, dass Elternhaus, soziales Milieu und Schulen den Charakter beeinflussen. Deshalb sollte man von einer Simulation keine sicheren Erkenntnisse darüber erwarten, ob verurteilte Straftäter eigentlich gute Menschen sind, die nur durch widrige Umstände auf die schiefe Bahn geraten sind. Selbst wenn man ihnen alle Erinnerungen an ihren persönlichen Werdegang nimmt, bleibt doch die Prägung durch ihr bisheriges Leben erhalten, und eine Persönlichkeitsstörung würde auch nicht verschwinden. Wäre es aus technischer Sicht überhaupt möglich, eine Simulation zu schaffen, die sich für die Betroffenen so echt anfühlt, dass sie sie nicht von der Wirklichkeit unterscheiden können? Immerhin leben wir im Zeitalter der virtuellen Realität. VR-Brillen erlauben schon heute ein Eintauchen in immer perfektere Computerspielwelten. Alle Sinne über mehrere Tage vollständig zu überwältigen, wäre aber eine ganz andere Aufgabe. Heute und auf absehbare Zeit ist daran nicht zu denken.
Im Sciencefiction-Genre ist dieses Thema aber durchaus beliebt. Die »Matrix«-Filme spielen zum beträchtlichen Teil in einer computergenerierten Traumwelt. Bereits im Jahr 1961 veröffentlichte der österreichische Autor Herbert W. Franke seinen Roman »Das Gedankennetz«. Darin benutzt ein totalitäres Regime eine perfekte Simulation, um die Loyalität seiner Bürger zu testen. Niemand weiß, ob er zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Wirklichkeit oder in einer Testumgebung lebt. Die Simulation muss auch nicht unbedingt technisch erzeugt sein. In George Orwells Dystopie »1984« prüft die allmächtige Partei die Loyalität der Hauptpersonen, indem sie vortäuscht, es gäbe eine Untergrundorganisation, die das Regime stürzen will. Der schwedische, an der Universität Oxford lehrende Philosoph Nick Bostrom geht sogar davon aus, dass wir höchstwahrscheinlich in einer Simulation leben. Einzige Vorbedingung wäre, dass es Wesen gibt, die das Interesse und die Fähigkeit haben, im Computer ganze Welten zu konstruieren und zu bevölkern. Bostroms argumentiert, dass es unter diesen Voraussetzungen genau eine Wirklichkeit, aber beliebig viele virtuelle Nachbauten davon gibt.
Kann man durch eine Simulation herausfinden, ob verurteilte Straftäter in ihrem Kern gute Menschen sind? Darüber ließe sich trefflich streiten. Ganz sicher müsste man für jede Person eine individuell zugeschnittene Umgebung entwerfen, statt einfach zehn von ihnen an einem virtuellen Strand abzusetzen. Im Konzept der Serie ist vorgesehen, dass jemand, der in der Simulation stirbt, auch tatsächlich tot ist. Aber würde dann nicht der Hinterhältigste und Brutalste überleben? Hier hätten sich die Produzenten einige Gedanken mehr machen können, die Prämisse der Serie ist in diesem Punkt nicht wirklich schlüssig.
Netflix hat den amerikanischen Drehbuchautor und Regisseur Neil LaBute verpflichtet, das Konzept von »The I-Land« zu entwickeln. Er hat die Drehbücher für vier der sieben Folgen geschrieben, die übrigen stammen von Lucy Teitler. Beide sind durchaus profilierte Autoren, aber irgendwie können sie sich nicht entscheiden, ob sie einen Thriller, eine Charakterstudie oder eine Kritik des texanischen Strafvollzugs schreiben wollen. Letztlich funktioniert nichts davon. Die Figuren erscheinen holzschnittartig, nur Kate Bosworth als KC lässt ansatzweise eine psychologische Entwicklung erkennen. Es bleibt auch unklar, ob die virtuelle Insel den Gefangenen eine zweite Chance eröffnen soll oder als Arena dient, in der alle aufeinander losgehen. Die Aktionen der Figuren sind oft genug nicht nachvollziehbar, und die Logik der Handlung schlägt mehr Haken als ein Hase auf der Flucht. Am mangelnden Ehrgeiz der Autoren wird es wohl nicht gelegen haben. Die Titel aller Folgen sind Zitate aus Shakespeares Theaterstück »Der Sturm«.
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