Genregulation: Untotes Erbgut
In jeder menschlichen Zelle stecken gut 30 000 Gene. Aber längst nicht alle sind aktiv: Ob und wann ein Gen ausgelesen und in ein Eiweißmolekül übersetzt wird, ist streng reguliert. So gibt es Gene, die beispielsweise nur im Embryonalstadium benötigt werden und später dicht verpackt im Zellkern schlummern. Ausgerechnet kurz nach dem Tod sollen solche Embryo-Gene wieder erwachen – das behauptet ein deutsch-amerikanisches Forscherteam. Sie wären auch noch vier Tage nach dem Tod bei Mäusen und Zebrafischen aktiv gewesen.
Ein wissenschaftliches Indiz für metaphysische Ideen der Wiedergeburt ist das nicht, erklärt ein vierminütiges Video auf dem YouTube-Kanal der angesehenen Fachzeitschrift »Science«: Bei den im toten Körper stattfindenden Zerfallsprozessen löst sich wahrscheinlich die dichte Packung, die das Auslesen der Embryo-Gene normalerweise verhindert. Außerdem leiden lebende Zellen in einem toten Körper an zunehmendem Sauerstoffmangel. Kein Wunder, dass in diesem Überlebenskampf andere Gene benötigt werden als im gesunden Organismus! Eine solche veränderte Genregulation sieht man auch im Labor, wenn man Zellen mit zu wenig Sauerstoff versorgt. Dieser und andere Effekte könnten dazu beitragen, dass sich die Genregulation auch noch einige Tage nach dem Tod verändert.
Das Video verdient nicht nur Lob für die ansprechenden Animationen, sondern auch für die einleuchtenden Erklärungen. Allerdings verschweigt es, dass die Studie nicht ganz unumstritten ist: Wenn ein Gen aktiv ist, wird es zunächst in eine Boten-RNA (mRNA) übersetzt, die dann als Bauplan für ein bestimmtes Eiweißmolekül dient. Je mehr Kopien einer Boten-RNA vorliegen, desto aktiver das Gen. Nun wurde in der Studie aber lediglich bestimmt, in welchem Verhältnis zueinander die verschiedenen Boten-RNAs vorliegen. Wenn sich dieses Verhältnis verändert, kann das auch schlichtweg an den unterschiedlichen Zerfallsraten der Boten-RNA liegen – so Kritiker der Studie (siehe hierzu die Kommentare unterhalb der Studie). Es muss also gar nicht bedeuten, dass Gene noch nach dem Tod aktiv an- und ausgeschaltet werden. Außerdem sei die Versuchsgruppe ohnehin zu klein, um zuverlässige Aussagen treffen zu können.
Selbst wenn die Genregulation kein Eigenleben entwickelt: Die Messmethode der deutsch-amerikanischen Forscher könnte nützlich sein – zum Beispiel um den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen, wie das Video vorschlägt (siehe hierzu auch diese Studie). So oder so ist es unverzeihlich, dass ein renommiertes Fachmagazin wie »Science« die kontroverse Debatte verschweigt und auf eine Quellenangabe zu den Studienergebnissen gar gänzlich verzichtet. Das legt die Frage nahe: Ging es den Machern mehr um Klickzahlen als um seriöse Berichterstattung?
Immerhin bietet das Video eine fundiertere Darstellung als so manch überzogene Schlagzeile zu der Studie. So titelte beispielsweise das britische Online-Magazin »Express«: »Schockierende Entdeckung: Gene helfen Wissenschaftlern, ein Leben nach dem Tod zu beweisen«. Der Vorwurf bleibt dennoch: Herausgeber von wissenschaftlichen Originalpublikationen sollten mit besserem Beispiel vorangehen als mit diesem Video geschehen.
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