Der Mathematische Monatskalender: Andrei N. Kolmogorov (1903–1987): Junges Genie
Eine der portugiesischen Milleniums-Briefmarken ist drei bedeutenden Mathematikern des 20. Jahrhunderts gewidmet: Von links nach rechts sind abgebildet: der Franzose Jules Henri Poincaré (1854–1912), der aus Brünn stammende Österreicher Kurt Gödel (1906–1978) sowie der Russe Andrei Nikolajewitsch Kolmogorov.
Poincaré gilt als einer der letzten Universalisten sowohl in der Mathematik als auch in der Physik; seine zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigten sich mit sehr unterschiedlichen Themen – von der Zahlentheorie angefangen bis hin zur Relativitätstheorie. Gödel, der wohl bedeutendste Logiker des 20. Jahrhunderts, erschütterte im Jahr 1931 mit einer Arbeit die mathematische Grundlagenforschung: Sein berühmter »Unvollständigkeitssatz« besagt, dass grundsätzlich keines der denkbaren Axiomensysteme der Arithmetik so »vollständig« ist, dass sich alle Aussagen der Arithmetik beweisen lassen, d.h. es gibt Aussagen, die sich aus diesem System weder herleiten lassen noch durch dieses widerlegt werden können.
Andrei Nikolajwisch Kolmogorov lernt seine Eltern nicht kennen: Die Mutter stirbt bei der Geburt; der Vater lebt – wegen Mitgliedschaft in einer revolutionären Gruppe – in der Verbannung; er kommt 1919 im Bürgerkrieg um. Die Schwester seiner Mutter adoptiert ihn und übernimmt die Erziehung; Andrei erhält den Familiennamen seines Großvaters. Von 1910 an besucht er eine höhere Schule in Moskau. Nach dem Schulabschluss 1920 arbeitet er eine Zeit lang als Eisenbahnschaffner, bevor er sein Studium an der Moskauer Universität aufnimmt. Außer für Mathematik interessiert er sich auch für Metallurgie sowie besonders für russische Geschichte. Später erzählt Kolmogorov gern eine Anekdote über eine historische Seminararbeit, die er verfasst hatte. Sein Dozent bemängelte, dass es im Fach Mathematik vielleicht genügen mag, dass man zur Bestätigung einer Behauptung nur einen Beweis liefert; Historiker würden es jedoch vorziehen, ihre Thesen durch mehrere Argumente zu belegen.
Dass er sich schließlich für Mathematik entscheidet, ist sicherlich auch seinem Lehrer Nikolai Nikolaijewitsch Luzin (1883–1950) zu verdanken, der die ungewöhnliche Begabung des Studenten Kolmogorov erkennt. Bereits im Frühjahr 1922 verfasst dieser einen international beachteten Aufsatz über Operationen auf Mengen. Im Sommer des Jahres verblüfft er Experten mit dem Beispiel einer integrierbaren Funktion, deren zugehörige Fourier-Reihe fast überall divergent ist. (Eine Fourier-Reihe ist eine besondere Summenfolge, deren Summanden aus trigonometrischen Funktionstermen bestehen.)
Bevor er 1925 sein Examen ablegt, veröffentlicht er noch acht Beiträge zu unterschiedlichen Themen, darunter – in Zusammenarbeit mit Aleksandr Jakowlewitsch Chintschin (1894–1959) – einen ersten Beitrag zur Wahrscheinlichkeitstheorie, der sich mit dem so genannten (schwachen) Gesetz der großen Zahlen beschäftigt.
Jakob Bernoulli (1654–1705) hatte um 1700 ein Gesetz aufgestellt, das heute Bernoullisches Gesetz der großen Zahlen genannt wird: Die Wahrscheinlichkeit, dass bei (Bernoulli-) Versuchen der Unterschied zwischen der relativen Häufigkeit \(X/n\) und der zugrundeliegenden Erfolgswahrscheinlichkeit \(p\) höchstens gleich einer vorgegebenen positiven Zahl \(\varepsilon \) ist, konvergiert mit wachsender Versuchsanzahl \(n\) gegen 1: \( \lim\limits_{n \to \infty}\)\(p\) \(\left( | \frac{X}{n} -p |\leq \varepsilon \right)=1\)
(Auf der schweizerischen Briefmarke ist dies so beschrieben: Der Mittelwert von Versuchsergebnissen strebt gegen den Erwartungswert der Zufallsgröße.)
Im Jahr 1866 verallgemeinerte Pafnuti Lwowitsch Tschebyschew (1821–1894) die Aussage für Summen unabhängiger Zufallsgrößen und gab dazu einen genial einfachen Beweis an (Tschebyschew-Ungleichung).
Der Kolmogorovsche Beitrag von 1925 gibt drei Bedingungen an, unter denen
\( \lim\limits_{n \to \infty}\)\(p\) \(\left( | \frac{1}{n} \cdot (X_{1}+..+X_{n})-\frac{1}{n} \cdot(E(X_{1})+...+E(X_{n})) |\leq \varepsilon \right)\)
\( =1\) gilt.
Die Bedingungen beziehen sich auf die Folge der Summe der Zufallsgrößen, die Folge der zugehörigen Erwartungswerte und die der Varianzen – der Satz wird daher auch »Drei-Reihen-Satz« genannt.
In den folgenden Jahren publiziert Kolmogorov weitere Beiträge zur Wahrscheinlichkeitstheorie, aber auch zu anderen Gebieten der Mathematik. Mit Pawel Sergejewitsch Aleksandrov (1896–1982) reist er durch Europa und besucht die Universitäten in Berlin, Göttingen, München und Paris. 1930 erhält er einen Lehrstuhl für Mathematik an der Moskauer Universität. Als Hochschullehrer übt Kolmogorov zeit seines Lebens eine faszinierende Wirkung auf seine Studenten aus. Er kümmert sich persönlich um sie; auf den regelmäßig durchgeführten, gemeinsamen Wanderungen wird vor allem über Mathematik diskutiert.
Kolmogorov verfasst auch Schulbücher und fördert mathematisch begabte Schüler. Mit dem 1933 in deutscher Sprache erscheinenden Werk »Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung« beeinflusst Kolmogorov in erheblichem Maße die weitere Entwicklung der Theorie der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
David Hilbert (1862–1943) hatte im Jahr 1900 auf dem 2. Internationalen Mathematikerkongress in München die – seiner Meinung nach – 23 wichtigsten mathematischen Probleme benannt, die einer Lösung bedürften. Als sechstes Problem stellte er die Frage, wie Mechanik und Wahrscheinlichkeitstheorie (die damals wegen der Anwendungsprobleme eher zur Physik gerechnet wurde) axiomatisiert werden könnten. Bei einem axiomatischen Aufbau geht man von grundlegenden Axiomen aus, von denen dann weitere Gesetze abgeleitet werden können – ähnlich, wie dies Euklid in der Geometrie geleistet hatte. Vergeblich hatten sich vor Kolmogorov verschiedene Mathematiker darum bemüht, geeignete Axiome zu formulieren. Der Ansatz von Richard von Mises (1883–1953), Wahrscheinlichkeiten als Grenzwerte relativer Häufigkeiten zu definieren, führte ebenfalls zu Schwierigkeiten.
Der Kolmogorovsche Ansatz dagegen ist »einfacher«; er beschränkt sich darauf festzulegen, welche Eigenschaften Wahrscheinlichkeiten haben sollen (und nicht, was Wahrscheinlichkeiten sind): Betrachtet man eine Ergebnismenge \(S\) eines Zufallsversuchs, auf der Mengenoperationen wie \(\cup\) und \(\cap\) definiert sind (eine sogenannte Ereignisalgebra), sowie eine Funktion \(P\), die den Teilmengen von \(S\) Zahlen aus dem Intervall [ 0 ; 1 ] zuordnet, dann stellt diese Funktion ein Wahrscheinlichkeitsmaß dar, wenn die folgenden drei Eigenschaften gelten (die Kolmogorov-Axiome):
- Für jedes Ereignis \(E \subseteq S\) ist die Wahrscheinlichkeit \(P(E)\) eine reelle Zahl zwischen 0 und 1: \(0 \leq P(E) \leq 1\)
- Das sichere Ereignis \(S\) hat die Wahrscheinlichkeit 1: \(P(S) = 1\)
- Die Wahrscheinlichkeit der Vereinigung abzählbar vieler unvereinbarer Ereignisse ist gleich der Summe der Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Ereignisse: \(P(E_{1} \cup E_{2} \cup ...) = P (E_{1}) + P(E_{2}) +\) ..., sofern \(E_{i} \cap E_{j} = { }\) für \( i \neq j \).
Aus diesen »Grundsätzen« lassen sich andere Eigenschaften herleiten, beispielsweise die Komplementärregel oder die allgemeine Summenregel (Ein- und Ausschaltformel).
In den folgenden Jahren leistet Kolmogorov weitere fundamentale Beiträge zur Theorie der Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik, der Markow-Ketten; er befasst sich mit Turbulenzen im Rahmen der Strömungslehre, mit dynamischen Systemen (Anwendung auf die Planetenbewegung), mit Informations- und Algorithmentheorie (die Kolmogorov-Komplexität ist ein Maß für die Struktur von Zeichenketten); er publiziert auch Beiträge zur Logik, zur Analysis und zur Topologie. Mit Wladimir Iwanowitsch Smirnow (1887–1974) entwickelt er einen vielseitig einsetzbaren, nicht-parametrischen Anpassungstest; hierbei wird die Differenz zwischen empirischer und hypothetischer Verteilungsfunktion untersucht.
Aufgrund seiner großen wissenschaftlichen Verdienste wird er vielfach geehrt, erhält als einer der ersten Wissenschaftler den 1940 eingeführten Stalin-Preis, 1962 den Balzan-Preis (Preisgeld 1 Million CHF), 1965 den Lenin-Preis, 1987 den Lobatschewski-Preis, 1980 den Wolf-Preis (Preisgeld 100 000 $). Er wird Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion und zahlreichen Ländern in aller Welt.
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