Der Mathematische Monatskalender: Karl Weierstraß (1815–1897)
Der Vater von Karl Weierstraß arbeitet zunächst als Sekretär des Bürgermeisters der Gemeinde Ostenfelde im Münsterland, dann als Steuerinspektor. Durch den Eintritt des Vaters in den preußischen Staatsdienst bedingt, wechselt die Familie oft den Wohnort. Bereits als Gymnasiast interessiert sich der herausragende Schüler für Mathematik, liest regelmäßig die Beiträge in der Hochschul-Fachzeitschrift Crelle Journal.
Karl legt seine Abiturprüfung in Paderborn ab und nimmt – auf Wunsch des Vaters – ein Studium der Rechtswissenschaft und des Finanzwesens in Bonn auf. Diese Studienfächer interessieren ihn jedoch nicht wirklich. Er ist hin- und hergerissen zwischen dem Gedanken, den Vorstellungen des Vaters gerecht werden zu müssen, und seinem eigentlichen Wunsch, Mathematik zu studieren. Den Konflikt kann er nicht bewältigen – er vernachlässigt die Teilnahme an den Vorlesungen im eingeschriebenen Studiengang, liest zwar intensiv in den Werken von Laplace, Abel und Jacobi, besucht aber keine Veranstaltungen der mathematischen Fakultät; vielmehr verbringt er die meiste Zeit in den Räumen einer Studentenverbindung.
Im achten Studiensemester fasst er endlich den Entschluss, das Studium ohne Examen abzubrechen. Ein Freund der Familie überredet den entsetzten Vater, seinem Sohn ein Studium an der Lehrerakademie in Münster zu erlauben, damit er zukünftig als Gymnasiallehrer für Mathematik und Physik seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann. Hier trifft Karl Weierstraß auf Christoph Gudermann als Lehrer; dieser hatte bei Carl Friedrich Gauß promoviert und als Erster Vorlesungen über Elliptische Funktionen gehalten – ein Thema, das Ende der 1820er Jahre durch Arbeiten von Niels Hendrick Abel und Carl Gustav Jacob Jacobi zum aktuellen, zentralen Forschungsgebiet geworden war.
Weierstraß absolviert das Akademiestudium in kürzester Zeit, unterrichtet in der einjährigen Probezeit an Gymnasien in Münster und tritt 1842 eine Stelle an einer Schule in Westpreußen an. In der Zwischenzeit hat er selbst Aufsätze über Elliptische Funktionen verfasst, die Gudermann später als gleichwertig zu den Beiträgen von Abel und Jacobi bewertet. Währenddessen leidet der Allround-Lehrer (er muss auch Deutsch, Geschichte, Botanik, Kalligraphie und Leibesübungen unterrichten) darunter, dass er von der Lektüre wissenschaftlicher Literatur und aktueller Veröffentlichungen abgeschnitten ist. Seine eigenen Forschungsergebnisse über Elliptische Funktionen veröffentlicht er im Jahresbericht seiner Schule, wo sie (erwartungsgemäß) von niemandem beachtet werden. In dieser ungünstigen Lebenssituation verschlechtert sich sein Gesundheitszustand; zunehmend leidet er unter Schwindelanfällen.
Erst sein Beitrag »Zur Theorie der Abelschen Funktionen«, der 1854 im Crelle Journal veröffentlicht wird, ändert seine unglückliche Situation auf dramatische Weise: Die Universität Königsberg verleiht ihm innerhalb weniger Wochen nach Erscheinen des Artikels die Ehrendoktorwürde, und er wird für ein Jahr – unter Fortzahlung der Bezüge – vom Schuldienst beurlaubt, um Zeit für die Fortsetzung seiner Forschungstätigkeiten zu haben. Zwar scheitert er mit einer Bewerbung um eine Professur an der Universität Breslau, aber nur deshalb, weil Ernst Eduard Kummer, der den Lehrstuhl in Breslau zugunsten eines Lehrstuhls in Berlin aufgegeben hatte, ihn unbedingt nach Berlin holen will. Im Sommer 1856 beginnt Weierstraß seine Tätigkeit als Dozent am Industrieinstitut in Berlin (heute: Technische Universität); noch im Oktober folgt der Ruf an die Universität Berlin, den er aber wegen der eingegangenen Verpflichtung am Industrieinstitut erst später annehmen kann.
Die Zusammenarbeit mit seinen Berliner Kollegen Ernst Eduard Kummer und Leopold Kronecker und seine neuartigen Vorlesungen über physikalische Anwendungen der Fourier-Reihen, Funktionentheorie (Analysis komplexwertiger Funktionen) und Elliptische Funktionen machen die Universität Berlin zu einem neuen Zentrum der Mathematik, an dem sich Studenten aus aller Welt einschreiben.
Seine Vorlesungen »Einführung in die Analysis und Integralrechnung« aus den Jahren 1859 bis 1861 stellen den Beginn einer Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Analysis dar: Während bisher die meisten Sätze anschaulich begründet worden waren, sucht er mit der sprichwörtlichen »Weierstraßschen Strenge« nach exakten Argumentationen, die auf formalen Schlüssen beruhen. Man kann sagen, dass Stil und Aufbau der Weierstraßschen Vorlesungen für Studienanfänger sich bis heute erhalten haben: Aufbau der Zahlen, Approximation von Funktionen durch Potenzreihen, \(\epsilon-\delta-\)Definition der Stetigkeit, Differenzierbarkeit, analytische Fortsetzung von \(\mathbb{R}\) nach \(\mathbb {C},\) Singularitäten (Stellen in \(\mathbb{R}\) oder Punkte in \(\mathbb {C},\) für die eine Funktion nicht definiert ist), analytische Funktionen mit mehreren Variablen, Linienintegrale.
Ende 1861 erfolgt dann ein gesundheitlicher Zusammenbruch. Erst nach einer einjährigen Auszeit kann er seine Tätigkeit als Hochschullehrer wieder aufnehmen; allerdings ist er gezwungen, am Pult sitzend, einem Studenten den gewünschten Tafelanschrieb zu diktieren.
Unter der großen Zahl seiner herausragenden Studenten ist eine Persönlichkeit hervorzuheben: Sofia Kowalewskaja. Diese kommt 1870 nach Deutschland, weil Frauen in Russland nicht studieren dürfen. Aber auch in Berlin wird ihr trotz der Weierstraßschen Fürsprache noch nicht einmal erlaubt, bei seinen Vorlesungen anwesend zu sein. Daher unterrichtet er sie zweimal in der Woche privat und betreut ihre ersten Veröffentlichungen. Nur mit Mühe gelingt es ihm, eine Universität zu finden, die ihre hoch qualifizierten Arbeiten als Grundlage für eine Promotion anerkennt. Letztlich ist es auch nur seinem Einfluss zu verdanken, dass sie ab 1883 eine Dozentenstelle in Stockholm findet. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1891 stehen beide in häufigem Briefkontakt.
Weierstraß veröffentlicht vergleichsweise wenig, weil er seine Konzepte ständig ergänzt und oft neue Erkenntnisse spontan in seine Vorlesungen einbaut; er stimmt der Veröffentlichung seiner Vorlesungsunterlagen im Rahmen von Gesammelten Werken zu. Die Herausgabe der ersten beiden Bände (von insgesamt sieben Bänden) kann er noch begleiten, dann verschlechtert sich sein Gesundheitszustand rapide. Die letzten drei Jahre verbringt er, wenn es ihm gut geht, im Rollstuhl sitzend. 1897 stirbt er, vielfach geehrt, an einer Lungenentzündung.
Aus der Vielzahl mathematischer Erkenntnisse, die ihm zu verdanken sind, sollen stellvertretend vier Beispiele genannt werden:
- 1863 beweist er, dass der Körper \(\mathbb {C}\) der komplexen Zahlen die einzige kommutative Erweiterung des Körpers \(\mathbb {R}\) der reellen Zahlen ist (das heißt, die Menge der reellen Zahlen und die auf ihr definierten Operationen und Gesetze der Addition und Multiplikation lassen sich auf die Menge \(\mathbb {C}\) erweitern; in anderen Erweiterungen von \(\mathbb {R}\) gilt das Kommutativgesetz der Multiplikation nicht, beispielsweise nicht im Quaternionen-Körper, den William Rowan Hamilton 1843 entdeckt hatte).
- 1860 beweist er den (heute so genannten) Satz von Bolzano-Weierstraß: »Jede beschränkte unendliche Zahlenfolge hat mindestens einen Häufungswert.«
- 1872 findet er eine Funktion, die überall stetig, aber nirgends differenzierbar ist, was der Anschauung widerspricht. (Beides wurde von Bernard Bolzano bereits um 1817 beziehungsweise 1830 entdeckt, aber erst im 20. Jahrhundert der Fachwelt bekannt.) Ein Beispiel einer »Weierstraßschen Monsterkurve« ist gegeben durch die als unendliche Reihe definierte Funktion \(f\) mit \(f(x) = \sin(x) + \frac{\sin(101x)}{100} + \frac{\sin(101^{2}x)}{100^2}+ \dots \)
- 1885 beweist Weierstraß den Approximationssatz: »Jede auf einem abgeschlossenen Intervall stetige Funktion kann durch Polynome beliebig angenähert werden.«
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