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News: Kannibalismus unter Neandertalern

Haben sie nun ihresgleichen verspeist? Oder sind das nur Mißverständnisse, Fehlinterpreationen und Ausgrabungsartefakte? Lange schwelte ein Disput unter Wissenschaftlern, ob Neandertaler dereinst ohne Not dem Kannibalismus frönten. Dank neuer Funde ist diese Frage nun vermutlich endgültig beantwortet. In Frankreich legten Forscher Knochen der Frühmenschen frei, die eindeutig Schnitt- und Bruchmarken aufweisen und sich mit Tierknochen vermischt auf einem Haufen befanden.
Mit diesen Knochen dürfte ein Schlußstrich gezogen werden unter die lange Diskussion, ob einige Neandertaler ihre Artgenossen gegessen haben. Zwar tragen Knochen von mehreren europäischen Fundstellen Spuren, die Archäologen als Hinweise auf Schlachtungen interpretiert haben. Kritiker wandten jedoch stets ein, es könne sich ebenso um Fraßspuren von Raubtieren handeln oder Zeichen von Vorbereitungsritualen für eine Beisetzung. Selbst Artefakte durch unsachgemäße Ausgrabungsarbeiten seien denkbar.

Die 100 000 bis 120 000 Jahre alten Knochen aus einer Höhle bei Moula-Guercy in der Nähe der Rhone in Frankreich zeichnen allerdings ein deutliches Bild. Danach hat eine Gruppe von Neandertalern systematisch die Knochen von mindestens sechs anderen Individuen entfleischt, mit einem Steinhammer und einem Amboß zerbrochen und anschließend das Mark sowie das Gehirn aus dem Schädel entfernt (Science vom 1. Oktober 1999). "Die Arbeit in der Moula-Guercy-Höhle erlaubt uns zum ersten Mal, die Existenz von praktiziertem Kannibalismus durch europäische Neandertaler zu zeigen", sagt Alban Defleur von der Université de la Méditerranée in Marseille.

Ob die Opfer des Kannibalismus gegessen wurden, weil der Gruppe damals keine andere Nahrung zur Verfügung stand, oder ob es sich um ein soziales Ritual handelte, ist nicht ganz klar. Aber der Reichtum des betreffenden Gebietes an natürlichen Ressourcen macht nach Ansicht von Defleur das Hunger-Szenario unwahrscheinlich. Außerdem fanden die Archäologen die Menschenknochen vermischt mit Hirschknochen, die ähnliche Merkmale von Schnitten aufweisen und ebenfalls aufgebrochen waren. Anscheinend wurden alle Knochen einfach auf den Höhlenboden geworfen.

Da die Forscher sehr vorsichtig vorgegangen sind, scheiden Ausgrabungsartefakte als Erklärung aus. Die Wissenschaftler kartierten die Lage jedes Knochens im Boden ebenso wie Fundstellen von Steinwerkzeugen und Tierresten. Sogar die Sedimentschichten, in denen die Gebeine steckten, haben sie registriert.

Aus den Daten schließen die Archäologen, daß die 78 Neandertalerknochen von wenigstens sechs Individuen stammen. Zwei davon waren erwachsen, zwei 15 oder 16 Jahre alt und die beiden anderen Kinder von sechs oder sieben Jahren. Alle Knochen von Schädeln oder Gliedmaßen waren zerbrochen, lediglich die Hand- und Fußknochen waren intakt. Schnittspuren an den Füßen, Knöcheln und Ellenbogen weisen darauf hin, daß bei jeweils mindestens einem Opfer die Achillessehne, die Sehnen der Beugemuskeln der Zehen und die Sehne des Bizeps durchschnitten wurden. Bei zweien der jüngeren Frühmenschen war der Schließmuskel des Kiefers vom Kopf geschnitten, bei anderen hatten die Neandertaler die Oberschenkelmuskel abgetrennt. In mindestens einem Fall hatten sie die Zunge herausgelöst.

Die Spuren an den Hirschknochen, die direkt zusammen mit den Neandertalerknochen lagen, weisen sehr ähnliche Merkmale auf, woraus die Forscher auf die gleiche Schlachttechnik schließen.

Alles in allem deuten die Funde stark auf kannibalische Praktiken hin, meint Defleur. "Wenn wir folgern, daß die tierischen Überreste von einer Mahlzeit stammen, müssen wir gezwungenermaßen diese Folgerung auch auf die Menschen[reste] ausdehnen."

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